geschrieben von Eliana Berger

11 Stunden und 11 Minuten
Zu Karneval ist der Kölner Hauptbahnhof Verteilerstelle für Jecke aus ganz Deutschland. Ein Tag in Bildern

11 Stunden und 11 Minuten von Eliana Berger

Es gibt einen Ort in Köln, den wohl jeder Jeck im Verlauf der Karnevalstage besucht. Sein Ruf ist derzeit etwas angekratzt, aber es ist nicht zu leugnen, dass er in diesen Tagen fest in kostümierter Hand ist: Der Hauptbahnhof. Im Akkord werden von hier aus Karnevalisten aus der ganzen Republik über die Stadt verteilt.

Grund genug, sich das Treiben einmal aus der Nähe anzusehen. Und zwar, wie sich das am jecksten Tag im Jahr gehört, für elf Stunden und elf Minuten. Elf symptomatische Momente der Weiberfastnacht am elfgleisigen (!) Hauptbahnhof.

Hinweis: Dieser Beitrag bietet sich nicht für die Mobilansicht an.

Die Uhr in der Bahnhofshalle schlägt zehn und die Kostümierten füllen bereits jeden Winkel des Bahnhofs mit Gelächter und Gesang. Oben am ICE-Gleis werden die letzten Farbakzente gesetzt: Sarah beugt sich konzentriert über das Gesicht ihrer Freundin Anna. Pinselt ein bisschen, pudert, wischt. „Ich habe ihr versehentlich Zeug ins Gesicht gekippt“, erzählt sie zerknirscht.„Das muss ich jetzt wieder reparieren.“
Es glückt, der Rest der Truppe nickt das Resultat ab. Glitzer, Herzchen, Lippenstift – alles wieder an seinem Platz. Und das gerade rechtzeitig: Der Intercity nach Dortmund fährt ein. „Nein, da wollen wir nicht hin“, lacht Sarah. Sie wollen nur einem Bekannten beim Bahnpersonal Hallo sagen. Echte Fründe ston zesamme.
Während die Züge laufend gut gelaunte Jecke in den Bahnhof spucken, zieht eine Gruppe bereits von weitem alle Aufmerksamkeit auf sich: „Will Grigg’s on Fire“ singen die Jungs vom FC Schönebürg, die zwar nur Kreisliga spielen, dafür aber umso mehr vom Karnevalfeiern verstehen.<br /><br />
Sie kommen jedes Jahr gemeinsam her. Kaum ist „Will Grigg“ – der Publikumsliebling der nordirischen Nationalmannschaft, dessen Fans ihm mit dem Song huldigen – verklungen, beginnen sie ein neues Projekt: Den Bau der höchsten – und vorerst einzigen – Menschenpyramide am Hauptbahnhof.

 

So erstaunlich das in Köln sein mag: Es gibt immer auch die, die der Karneval eiskalt erwischt. Silke Bastian tritt an Gleis fünf hastig von der Rolltreppe weg und schiebt ihren Koffer aus dem Gewimmel verkleideter Körper. Sie feiert heute nicht – sie reist. „Das war wirklich unüberlegt von mir. Normalerweise bin ich Weiberfastnacht auch in der Stadt. Aber dieses Jahr habe ich einfach nicht dran gedacht.“ Hoch nach Lübeck muss sie, eine Freundin feiert Geburtstag. Trotzdem stört sie sich nicht am Karnevals-Chaos: „Ich sehe das hier mit Freude. Diese Kostüme – einige hatten wirklich schöne Ideen.“

 

Elf Uhr elf. Zur magischen Uhrzeit erreicht die musikalische Beschallung ihren Höhepunkt. Eine Musikgruppe nach der anderen zieht durch die Eingangshalle. Schiefe Töne werden großzügig überhört, et Trömmelche jeht und die Jecken stehen im Halbkreis schunkelnd drum herum. Irgendwann dürfen selbst die holländischen Musiker verkünden, sie seien „Kölsche Jung“. Ihr Trommler hat sich immerhin einen Schnurrbart stehen lassen, der eindeutig in der Tradition von Höhner-Frontmann Hennig Krautmacher steht.
Die einen feiern, die anderen arbeiten: In der Buchhandlung Ludwig bringen Melanie und Doris schon seit fünf Uhr morgens Bücher und Zeitschriften an den Mann. Am Bahnhof werden heute also tatsächlich auch nichttrinkbare Güter verkauft. Der Betrieb? „Es ist den ganzen Tag über was los. Die ersten Verkleideten kommen schon um sieben.“ Ihre Kundschaft sei aber sehr umgänglich.
Etwas hektischer sieht es beim Kiosk um die Ecke aus: Hier geht kistenweise Bier über die Theke. Zurück bekommen Jennifer und Malkeet dafür gern mal den ein oder anderen flotten Anmachspruch.

 

Um die Mittagszeit herum ist der Karneval für einen Moment erstaunlich weit weg. An den Gleisen herrscht Stille. Die Karnevalisten feiern jetzt anderorts, die Reisenden haben die Bahnsteige zurückerobert. Gestalten mit Koffern und gesenkten Blicken huschen vorüber. Eine einsame Gruppe Einhörner trinkt Kleine Feiglinge und wippt mit den Füßen zu einem imaginären Takt. Unten in den Gängen stehen Polizisten in orangenen Warnwesten in Reih und Glied. Hier ist es zwar voller – für mehr als ein paar Wegbeschreibungen werden sie gerade aber nicht gebraucht.

Für Maver ist heute ein großer Tag: In der Schule hat der Erstklässler seine erste Karnevalsparty gefeiert. Da lässt Mutter Jackie ihn und die kleinen Geschwister ausnahmsweise auch einen Blick auf den Trubel in der Stadt werfen. Die Familie lebt seit drei Jahren in Köln – das hier ist für alle eine Premiere. Die Kinder fassen sich an den Händen und folgen der Mama hinein in den Strom singender Karnevalisten.

 

Gegen Nachmittag beginnt der Boden zu kleben. Die Blicke werden müder, der Gesang kreischender. Die Musik kommt jetzt aus Boxen und nicht mehr frisch aus der Trompete. Alles, worauf der Jeck sitzen kann, wird zum Erholungsort auserkoren. Manch einer hängt schon kopfüber in den Sitzen. Und überall wird gegessen: Pizza, Pommes, Burger. „Nicht die Chicken Wings“, ruft ein Drache und versucht verzweifelt, seine Fressbox vor den gierigen Händen seiner Begleiter zu retten. Immerhin geht es hier nur ums Essen – in den Durchsagen wird jetzt in regelmäßigen Abständen vor Trickdieben gewarnt.

 

Schließlich kommt er dann doch, der angekündigte Sturm. Windböen und Sprühregen fegen über die Domplatte. Während die Jecken in die Eingangshalle flüchten, flattern die bunten Luftballons von Sebastian und seinem Sohn Nacho hilflos im Sturm. Seit acht Uhr stehen die beiden vor dem Bahnhof und verkaufen fliegende Einhörner und Hello Kittys. Ihre Ballons üben zweifelsohne eine Faszination auf die Karnevalisten aus: „Komm, wir lassen einen fliegen“, ruft ein angeheiterter Pirat und versucht seine Begleiterin zum Stehen zu bringen. Die zerrt ihn mit grobem Körpereinsatz weiter. Sebastian und Nacho lachen nur.
Zwischen falschen Swat-Teams und johlenden Männergruppen in Bundeswehr-Oliv patrouillieren echte Polizisten. Und als die ersten Jecken den Heimweg antreten, zusätzlich eingesetztes Bahnpersonal. Die Schwankenden müssen davor bewahrt werden, ins Gleisbett zu stürzen. Auf den S-Bahn-Gleisen testen drei junge Sicherheitsbeamte ihre Funkgeräte: „Tobi, hörst du mich?“ Tobi hört leider noch nicht so ganz. Kurzes Geschraube, dann ist sein Kanal frei. Die nächste Bahn kündigt sich an, die Sicherheitsleute strömen in alle Richtungen davon.

 

Am Abend, wird es im Bahnhof noch einmal besonders eng. Draußen wanken die Bäume im Sturm, drinnen so manch ein Jeck. Der Boden klebt jetzt stärker, die Kostümierten dünsten verschiedenste Düfte aus. Gerangel und unruhige Zwischentöne bleiben trotzdem eine Seltenheit. Es herrscht Aufbruchsstimmung: Eine Magnolie macht sich zurück auf den Weg nach Wesseling, zwei Hühner suchen den Regionalexpress nach Mönchengladbach. Die Duschkabine hat leider Schwierigkeiten, ihren genauen Wohnort zu artikulieren. „Hier ist ja prächtig was los“, staunt eine Dame im blau-leuchtenden Tütü. „Aber es ist nett hier – echt nett.“ Und „echt nett“ – das scheint um kurz nach neun, elf Stunden und elf Minuten nach Beobachtungsbeginn, gar nicht so weit gefehlt.
Während die Bahnen feiernde und dösende Menschen in die Heimat zurücktragen, bleibt das Gefühl zurück, dass der Bahnhof heute ein Ort im Geiste des Karnevals geblieben ist. Mit allem, was dazugehört: Klebrigem Konfetti an den Füßen, denen, die zu tief ins Kölschglas schauen – und eine Menge fröhliche, farbenfrohe Heiterkeit.