geschrieben von Kendra Stenzel

Die Mauer muss weg
700 Züge täglich werden auf sechs Gleisen mitten durch den Düsseldorfer Stadtteil Angermund rauschen, wenn der RRX kommt.

Die Mauer muss weg von Kendra Stenzel

Am liebsten würde Elke Wagner den ehemaligen Kanzleramtsminister und für die Infrastruktur zuständigen Bahnvorstand Ronald Pofalla nach Angermund holen und ihn für eine Stunde an die viergleisige Bahntrasse stellen, die nur einen Steinwurf von ihrem Haus entfernt liegt. Das würde schon ausreichen, um ihn zu überzeugen, glaubt sie.

Bis zu 46 Züge pro Stunde rasen hier auf dem Abschnitt zwischen Düsseldorf und Duisburg vorbei, 500 sind es pro Tag. Darunter auch etliche Güterzüge, deren Lärm besonders unerträglich ist. Der Lärmschutz besteht aus einer meterhohen Hecke. Mehr nicht. Wenn der Rhein-Ruhr-Express kommt, werden es 700 Züge täglich auf sechs Gleisen sein. Weil das so ist, plant die Bahn, den Düsseldorfer Stadtteil mit seinen 6000 Einwohnern, der schon seit einem halben Jahrhundert durch die Trasse zerschnitten ist, auf beiden Seiten mit 4,50 Metern Lärmschutzwänden zu beruhigen. „So kann man mit Menschen doch nicht umgehen“, schreit Elke Wagner gegen den Zuglärm an, während sie mit ihren Mitstreitern von der Bürgerinitiative auf der Brücke über dem Haltepunkt Angermund stehen, als gerade wieder ein ICE mit Tempo 160 am Bahnsteig vorbeidonnert.

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Eingemauert: So soll die Trasse nach DB-Vorstellungen aussehen.

Gleich um die Ecke in der Bahnhofstraße liegt das traditionsreiche Haus Litzbrück, ein Hotel mit erstklassiger Küche, dessen langjähriger Besitzer Wolfgang Eggerath es wegen des zunehmenden Bahnlärms im Jahr 2009 weit unter Wert verkaufen musste. „Was glauben Sie wohl, was unsere Häuser und Grundstücke noch wert sind, wenn wir von mit Graffiti übersäten Lärmschutzwänden eingemauert sind?“ Die Häuser an der Bahnlinie seien nahezu unverkäuflich, seit bekannt ist, dass die Trasse auf sechs Spuren erweitert wird. „Wir brauchen hier eine vernünftige Lösung.“

Bahnvorstand Pofalla wird wohl nicht nach Angermund kommen. NRW-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) auch nicht. Sie werden am kommenden Mittwoch im Kölner Hauptbahnhof lieber den symbolischen Spatenstich für das größte Verkehrsprojekt feiern, das Nordrhein-Westfalen je gesehen hat. 2,5 Milliarden Euro kostet allein der Gleisausbau. Weitere 1,7 Milliarden werden in 82 neue Züge und deren Betriebsgarantie für 30 Jahre investiert. Das ist wahrlich ein Grund zu feiern: Mit einem Gläschen Sekt, ein paar Häppchen im Alten Wartesaal unter dem Hauptbahnhof, mit Reden und Hochglanzbroschüren. Elke Wagner wird auch kommen. Die Vorsitzende der Bürgerinitiative Angermund hat zwar keine Einladung, aber dafür eine gehörige Portion Wut im Bauch. „Wir sind nicht gegen den RRX. Im Gegenteil: Alle werden davon profitieren. Aber wir kämpfen für die Tieferlegung und die Einhausung der Trasse.“ 40 000 Euro haben die Angermunder aus eigener Tasche bezahlt, um den im Detail ausgearbeiteten Lärmschutzplänen der Bahn wenigstens eine Machbarkeitsstudie für eine knapp 1000 Meter lange Tunnellösung entgegenzusetzen.

Ein Deckel für die Trasse

An einem Runden Tisch, der von dem grünen Landtagsabgeordneten Stefan Engstfeld moderiert wurde, haben sich Bahn, Initiative und Vertreter der Stadt Düsseldorf über Monate gezofft und am Ende einen Minimalkonsens erzielt: Man ist sich grundsätzlich einig, dass eine Tunnellösung möglich ist. Kein richtiger Tunnel, sondern eine sogenannte Einhausung, die aus Sicht der Bürgerinitiative die einmalige Chance wäre, den zerrissenen Stadtteil zusammenzuführen. „Wir müssen die Trasse tieferlegen und einen Deckel drauf machen. Auf dem könnten Grünflächen, Spielplätze, Überwege für Fußgänger und Fahrräder entstehen“, sagt Wagner. Weil die Gesamtlänge unter 1000 Meter liegt, seien die Sicherheitsauflagen deutlich geringer als bei einer längeren Variante, die bautechnisch als Tunnel gilt und für die deutlich höhere Sicherheitsanforderungen zu erfüllen sind.

Die Standard-Lärmschutzwände kosten 60 Millionen, die Deckel-Lösung würde knapp 220 Millionen Euro verschlingen. Das allein wäre bei einem Milliardenprojekt sicher nicht das Problem, doch der Teufel steckt im Detail. Der Streit von Angermund ist ein Musterbeispiel dafür, wie die Interessen von Anwohnern systematisch von den Institutionen zermahlen werden, bis sie entnervt oder aus Geldmangel aufgeben.

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Angermunder Bürger beim Protest vor dem Düsseldorfer Rathaus

Ende Februar 2017: Ein Abend im Radschlägersaal des Düsseldorfer Rathauses: Verzweifelt kämpfen die Vertreter der Bürgerinitiative mit einem renommierten Experten, der ihre Machbarkeitsstudie erstellt hat, für ihre Position. Was sie von der Bahn zu hören kriegen, lässt sich so zusammenfassen: Geht nicht, gibt’s nicht, alles spricht dagegen. Die Abmessungen der Einhausung entsprächen nicht den Richtlinien, die baubetrieblichen Zustände einschließlich der Oberleitungen seien nicht untersucht, Rettungswege nicht berücksichtigt worden. Und überhaupt müssten Aufsichtsbehörden zustimmen, fünf Jahre Bauzeit seien viel zu lang. Alles Totschlag-Argumente.

Nachdem Michael Kolle, RRX-Koordinator der DB Netz AG, die Einwände formuliert hat, kann Elke Wagner nur noch fassungslos ein Foto vom Staufenplatztunnel in Düsseldorf-Grafenberg in die Höhe halten. „Und so könnte das auch bei uns aussehen. Arbeiten Sie doch daran mit.“ Der Bahnvertreter entgegnet: „Das können Sie überhaupt nicht vergleichen.“

Die Chance, einen Stadtteil zu reparieren

Mittendrin in dieser Szenerie sitzt Düsseldorfs Oberbürgermeister, der die Initiative wegen ihres großen Engagements gerade noch gelobt hat. Bei jedem Großprojekt träten unterschiedliche Positionen zutage, man müsse die Auffassungen zusammenbringen, so schnell wie möglich eine Lösung finden. Das sei „in der Tat komplex und nicht trivial, ein zentrales Verkehrsprojekt zwischen den Metropolregionen Ruhr und Rheinland“, sagt Thomas Geisel (SPD). Die Einhausung sei sicher die bessere Variante, aber es würden wohl die Mittel fehlen. Das sei nichts, worüber der Oberbürgermeister von Düsseldorf verfügen könne. Er hätte auch gleich sagen können: Packt eure Sachen, es hat keinen Sinn, lasst es bleiben.

„Wie sollen wir mit unseren bescheidenden Mittel überhaupt eine Waffengleichheit herstellen?“ Elke Wagner ist wütend, ihre Mitstreiter von der Bürgerinitiative, die seit Jahrzehnten gegen den Lärm kämpfen, entsetzt. Das Mindeste, das man erwarten könne, sei doch, dass die Stadt Düsseldorf sich darum bemühe, die Tunnelpläne genauso detailliert auszuarbeiten, wie die Bahn das mit ihrer Lärmschutzlösung längst getan hat. „Wir fordern ein simuliertes Planfeststellungsverfahren, damit hier nicht länger Äpfel mit Birnen verglichen werden.“ Die Planungskosten für die Lärmschutzwand-Variante würden schließlich auch aus öffentlichen Mitteln bezahlt. Das sei nicht Aufgabe der Stadt, sagt Oberbürgermeister Geisel. Dass er damit die Chance verstreichen lässt, einen Stadtteil zu reparieren, sagt er nicht.

Die Bahn hat für das Planverfahren die Unterlagen für den Ausbau der Trasse zwischen Düsseldorf und Duisburg von vier auf sechs Gleise noch nicht eingereicht. Sie ist verpflichtet, bei der Erweiterung den bisher fehlenden Lärmschutz zu bauen und bevorzugt die Standardlösung wie an allen Strecken, die erweitert werden. Nach Einreichen der Unterlagen werden acht Jahre bis zum Baustart vergehen. Um die Machbarkeitsstudie für die Einhausung zu konkretisieren, müsste die Bahn im Verkehrsausschuss des Bundestags Geld beantragen. Die Bürgerinitiative Angermund fordert genau das. Beide Schallschutzvarianten müssten auf einem Planungsstand sein, um sie vergleichen zu können.

Am fehlenden Geld könne es nun wahrlich nicht liegen, glaubt man bei der Bürgerinitiative Angermund. „NRW wird doch geflutet. Die wissen doch gar nicht, wie sie das ausgeben sollen“, sagt Elke Wagner. „Natürlich ist die Einhausung teurer. Aber kein Mensch sagt, dass Lärmschutzwände nach zehn Jahren saniert werden müssen und jede städtebauliche Entwicklung zunichte machen. Anderenorts werden auch Lärmschutztunnel gebaut. Wir wollen ernst genommen werden.“

Geisels Parteifreund Michael Groschek hat bei allen Verkehrsprojekten längst eine neue Parole ausgegeben. „Schüpp, schüpp und quatsch nicht muss zum Grundprinzip werden.“ Dafür erntet der Verkehrsminister bei der dritten Regionalkonferenz für den RRX in Köln viel Beifall. Das Planfeststellungsverfahren für den Bau der Leverkusener Rheinbrücke habe 1965 fünf Schreibmaschinenseiten umfasst. „Heute füllt es ein Billy-Regal.“ Groschek wäre es am liebsten, wenn alle Verkehrsprojekte in seinem Bundesland nach der Lex Leverkusen durchgezogen würden. Grundsätzlich nur noch eine Klage-Instanz beim Bundesverwaltungsgericht und danach rollen die Bagger. Eine Bund-Länder-Kommission unter Federführung von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) erarbeitet derzeit Vorschläge für beschleunigte Planungsverfahren und will sie Ende März vorstellen.

Es sei beeindruckend, mit welcher Hartnäckigkeit die Angermunder um die Belange ihres Stadtteils kämpfen, findet Elke Wagner. „Die Bezirksvertretung steht hinter uns. Und von unserem Oberbürgermeister hätte ich mir mehr Unterstützung gewünscht.“ Die wird sie am Mittwoch in Köln höchstpersönlich von Bahnvorstand Ronald Pofalla einfordern. Vorausgesetzt, man lässt sie überhaupt zur Spatenstich-Party in den Alten Wartesaal. Schließlich hat sie keine Einladung. Was sie ihm sagen wird, ist völlig klar. „Ohne den Tunnel wird durch Angermund kein RRX fahren. Dafür werden wir sorgen.“