geschrieben von Jasmin Krsteski

Stille
Menschen sehnen sich nach Ruhe. Im dichten Alltag ist sie oft schwer zu finden.

Stille von Jasmin Krsteski

Am schönsten ist Stille, wenn sie nicht vollkommen ist. Wenn Blätter leise  rauschen, Vögel zwitschern oder Wasser vor sich hin plätschert. „Stille gibt es in der Akustik eigentlich gar nicht“, sagt Hans Hansen, Psychoakustiker am Schalllabor in Hamburg.

Auch den Begriff Stille als solchen kennt die Akustik nicht. Korrekt ausgedrückt ist Stille eher als  niedriger Schalldruckpegel zu bezeichnen. Wer zu Hans Hansen kommt, möchte wissen, ob sich sein Produkt, zum Beispiel ein Staubsauger,  gut anhört und wie  der Klang  von den Menschen wahrgenommen wird. Es ist paradox: Möchte man mit jemandem über Stille reden, muss man jemanden finden, der sich mit Geräuschen auskennt.

„Wenn wir alleine tief im Wald sind, empfinden wir das als still. Im physikalischen Sinne ist es das aber gar nicht.“ Eben weil Blätter rauschen, die Vögel singen und das Wasser plätschert, und täten sie das nicht, würden wir es als unangenehm empfinden. „Für den Menschen spielt die physikalische Stille eigentlich keine Rolle.“  Für die meisten von uns ist Stille  ein Luxusgut.  Organische Geräusche wie Blätterrauschen und Vogelzwitschern finden wir im Wald, unser Alltag aber  ist in der Regel dominiert von mechanischen Verkehrsgeräuschen und Baulärm. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte Lärmverschmutzung  zur „modernen Plage“. Einer Studie der Organisation zufolge ist Lärmbelästigung nach Luftverschmutzung das Umweltproblem mit der zweitgrößten Auswirkung auf die menschliche Gesundheit. Gemeint sind Geräusche von Fahrzeugen, Maschinen und Menschen, denen wir heute überall ausgesetzt sind.

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Die Flora: Ein verwunschener Garten mitten in der Großstadt. In den Gewächshäusern taucht man gar in fremde Welten und kleine Oasen ein. Derzeit ist allerdings nur das Subtropenhaus geöffnet.

Über die Qualität von Geräuschen gibt es viel zu sagen, nicht aber über die von Stille. Stille ist eben – nichts. Gibt es vollkommene Stille überhaupt? Für einen absolut schalltoten Raum müsste man schon ins Weltall fliegen oder tief in der Erde einen schalldichten Raum bauen. Der stillste Ort der Erde soll in den Orfield Laboratories  in Minneapolis liegen. 99,99 Prozent der in einer speziell abgedichteten Kammer  erzeugten Geräusche werden absorbiert. Wer sich dort länger aufhält, bekommt Halluzinationen. Stille kann herrlich, aber auch beängstigend sein.  Sensorische Deprivation oder auch Reizentzug – so der Fachbegriff für  das, was langanhaltende tiefe Stille mit dem Körper machen kann, wird auch als Foltermethode benutzt.   Natürlicherweise existiert sie auf der Erde  nicht. „Ein Grundrauschen gibt es immer“, sagt Hans Hansen.

Wann sehnen wir uns nach Stille? Tatsächlich kommt es bis zu einer gewissen Dezibelzahl weniger darauf an, wie laut oder leise ein Geräusch ist, sondern vielmehr auf seine Qualität. „Die rauschenden Blätter weisen auf nichts hin als auf sich selbst, sie transportieren keine Information“, erklärt der Psychoakustiker. Wir können deshalb ganz mit uns selbst sein, ohne dass uns das Rauschen stören würde, nein, es kann sogar beruhigend wirken. Erst wenn der Wind so stark wird, dass er einen Sturm ankündigt, bekommen das Rauschen der Blätter oder das Geräusch von Wellen für uns Informationswert – und wirken bedrohlich. Es ist also eigentlich nicht Stille, nach der wir uns sehnen. Es ist Ruhe.

Ein Handy klingelt. Auch wenn der Klingelton ein Lied ist, das man gerne mag,  weist es auf etwas hin, nämlich darauf, dass mich jemand sprechen will, dass ich agieren soll.  „Nach dem zehnten Klingeln werden sie den Wunsch haben, das Handy lautlos zu stellen.“ Geräusche verweisen auf etwas, und ob wir ein Geräusch alarmierend finden oder nicht, hängt davon ab, womit wir es   assoziieren. „Im Krankenhaus etwa gibt es viele Pieptöne“,  sagt Hansen. „Und die Pfleger und Ärzte wissen ganz genau, wie sie auf welches Geräusch reagieren müssen. Bei manchen wird ganz aufgeregt rumgerannt, bei anderen passiert gar nichts.“ Bei einer Limousine erwartet der Kunde, dass sie nahezu lautlos fährt. Bei einem Sportwagen dagegen, dass  der Motor dröhnt. In diesem Fall signalisiert das raue Geräusch Stärke und ist damit – zumindest für den Fahrer des Wagens – positiv besetzt. Dabei sind diese rauen Geräusche wie das Dröhnen des Motors eigentlich Töne, die die allermeisten Menschen nicht mögen.

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Braucht Stille einen stillen Ort? Auf jeden Fall fällt es uns leichter, in uns reinzuhören, wenn der Rahmen stimmt, wie bei dieser Verweilbank im Botanischen Garten.

Ob wir ein Geräusch als unangenehm empfinden, hängt auch davon ab, wie wir zu demjenigen stehen, der es verursacht.  Das Rasenmähen des Nachbarn kann als Hintergrundrauschen untergehen, wenn wir ihn mögen. Es kann uns aber auch aggressiv machen, wenn wir mit ihm im Streit liegen. Was und ab welcher Dezibelzahl wir etwas als Lärm empfinden, ist allerdings sehr individuell. Und es kommt auf die Situation an. Tagsüber hören wir den tropfenden Wasserhahn gar nicht; nachts, wenn wir wach im Bett liegen, raubt er uns den Schlaf. Richtig dosiert kann Lärm auch etwas Berauschendes sein: Auf einem Rockkonzert etwa.

Ab einer gewissen Lautstärke ist Lärm jedoch indiskutabel. Vorbeirauschende Autos oder Flugzeuge verweisen im Grunde ebenfalls auf nichts anderes als auf sich selbst.  Dass wir  sie trotzdem als störend empfinden, hat vor allem mit ihrer Lautstärke zu tun. „Diese Geräusche sind unter Umständen so laut, dass sie Reaktionen des Körpers hervorrufen“, sagt Hans Hansen. Der Mensch kann sich nicht konzentrieren, schläft schlechter, ist belastet und gestresst, wenn er ständig Verkehrslärm ausgesetzt ist.  Die im Jahr 2015 veröffentlichte Norah-Studie des Landes Hessen untersuchte die Auswirkungen von Verkehrslärm auf die Lebensqualität und die Entwicklung von Kindern, nicht nur in Hessen, sondern auch in der Umgebung des Köln-Bonner Flughafens. Die Wissenschaftler sahen Zusammenhänge zwischen Lärm und dem Auftreten von Herzinfarkten, Schlaganfällen, Herzinsuffizienz und Depressionen. Außerdem lernen Kinder der Studie zufolge langsamer lesen, wenn sie in Gegenden mit einer hohen Fluglärmbelastung wohnen. Menschen, die beispielsweise in der Nähe einer Autobahn wohnen oder in einer Einflugschneise, versuchen es häufig mit einer sogenannten Copingstrategie: „Sie reden sich ein, dass das schon okay ist, weil die Miete ja billig ist“, sagt Hansen.  Für den Körper aber bleibt der Geräuschpegel Stress.

Motoren- und Maschinengeräusche, Handyklingeln und Baulärm sind der Soundtrack unserer Zeit. Kein Wunder, dass alle so gestresst sind. Und  wird das nicht immer schlimmer? „Tatsächlich würde ich sagen, dass es in den vergangenen 30 Jahren immer leiser um uns geworden ist“, sagt der Psychoakustiker. „Autos, Flugzeuge und Züge sind heute wesentlich leiser als früher.“ Auch, wenn der Verkehr zunimmt – lauter ist er nicht unbedingt. „Was mehr geworden ist, ist die Informationsdichte, der wir ausgesetzt sind.“ Das ständige Handyklingeln, Gespräche anderer, die wir mit anhören. Interessanterweise ist es das, was unsere Aufmerksamkeit am meisten ablenkt: Wenn sich jemand in einer Sprache unterhält, die wir verstehen. Auch wenn das Gesagte nicht direkt an uns adressiert ist, fühlt sich unser Hirn genötigt zuzuhören. Und das gelingt, sogar simultan bei mehreren Gesprächen.

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Nein, still im eigentlichen Sinne ist es im Tropenhaus im Kölner Zoo nicht. Aber das Plätschern des Wasserfalls und die Stimmen der Vögel bieten ein beruhigendes Klangerlebnis, das es sonst eben nur im Regenwald gibt.

Nehmen wir folgendes Szenario:  Eine Person unterhält sich auf einer Party. Um sie herum wird natürlich ebenfalls gesprochen, aber sie konzentriert sich auf das, was ihr Gegenüber gerade erzählt. Auf einmal fällt ihr Name irgendwo in einem anderen Gespräch.  Sofort ist die Aufmerksamkeit  der Person bei dieser anderen Unterhaltung, obwohl sie dem Gespräch vorher überhaupt nicht folgte. „Unser Gehirn hört überall mit“, erklärt Hansen. „Aber es filtert heraus, welche Informationen für uns wichtig sind. Bewusst bekommen wir deshalb nicht alle Informationen mit. Das ist der sogenannte Cocktailparty-Effekt. Es gibt jedoch Alarmwörter wie eben unseren Namen, die sofort unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“   Dass unser Gehirn selektiert, was für uns wichtig ist und alles andere in den Spamordner unseres Bewusstseins schiebt, ist für uns ein großes Glück. Ansonsten wären wir wohl gnadenlos überfordert mit all dem Input. Am Unterbewusstsein geht die Informationsflut dennoch nicht spurlos vorbei. Wer ständig Lärm ausgesetzt ist, dessen Körper setzt Stresshormone frei. Denn Lärm ist ein Alarmsignal für unseren Körper, der als Reaktion darauf auf Fluchtmodus schaltet. Laute Geräusche sind potenziell bedrohlich.

Unser Gehirn stammt aus einer Zeit, in der es noch nicht so viele Geräusche und Informationen zu verarbeiten gab. Heute versuchen wir, die Geräuschkulisse mit Kopfhörern, Lärmschutzwänden und Schallschutzfenstern zu kompensieren. Und unser altes Gehirn muss noch mit anderen Belastungen klarkommen. Denn es gibt  ja noch den Lärm, den wir nicht hören können. Der spielt in unseren Leben eine zunehmend große Rolle. Der Lärm in unserem Kopf, der uns ständig antreibt. Die ständige Erreichbarkeit, Handy, Facebook und Fernsehen, die Schreckensmeldungen, die  zu jeder Zeit aus aller Welt zu uns finden können, uns in ständigem Bereitschaftsdienst halten und uns der Stille berauben.  Einer Stille, die nicht nur mit Geräuschen zu tun hat. Meditationskurse, Yoga, Achtsamkeitsseminare, Tage des Schweigens, Räume der Stille, Schweigeklosterwoche – Angebote, um aus dieser Spirale auszubrechen,  gibt es viele und günstig sind sie nicht. Stille ist kostbar.   Martin Hofmeir ist Psychologe und Theologe am Kloster Arenberg. „Viele Menschen sind übersättigt an Reizen“, sagt er. „Schauen sie sich in der Bahn um: Die Leute kleben an ihren Smartphones. Sie sind  es nicht mehr gewöhnt, nichts zu tun. Wir haben eine Kultur des Multitaskings. Es ist eine große Sehnsucht unserer Zeit, befreit zu werden von den Fesseln des Alltags.“

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Der Decksteiner Weiher: Sieht nach Stille aus, oder? Tatsächlich begleitet der Soundtrack der Stadt die Naturszenerie als Hintergrundrauschen – die A4 ist nicht fern. Doch solange sie nicht zu laut sind, beunruhigen uns Geräusche nur, wenn sie Informationswert haben, sagt der Psychoakustiker Hans Hansen.

Lärm fasten, in ein Schweigekloster gehen. Unerreichbar sein mit Ansage und unter einem legitimen Vorwand.  Was sich anhören mag, wie der Himmel auf Erden, ist tatsächlich eine echte Herausforderung. Wer sich auf die Stille einlässt und sich von Handy und Lärm befreit, muss sich sich selbst stellen und seine innere Stimme wahrnehmen. Auch wenn es außen still ist, heißt das nämlich noch nicht, dass es  auch in uns ruhig wird.  Das ist etwas, was viele von uns vermutlich erst wieder lernen müssen: Unsere Aufmerksamkeit  nach innen zu richten, uns selbst zuzuhören – und uns dabei wohlzufühlen. Nicht an gestern zu denken, nicht an morgen, keine Probleme im Kopf zu wälzen, sondern sie einfach mal da sein zu lassen.  Ungefähr ein Mal pro Monat finden im Kloster Arenberg Tage der Stille statt. Aber auch zwischendurch kommen immer wieder Menschen dorthin, um Stille zu finden. „Es ist ein großes Bedürfnis vieler Menschen, einen Ort aufzusuchen, an dem Ruhe herrscht“, sagt Hofmeir.  Die meisten Menschen kommen bewusst alleine, einige stecken sich einen „Schweigebutton“ an, um zu signalisieren, dass sie nicht angesprochen werden möchten. Im Kloster gibt es auch einen eigenen Speisesaal für diejenigen, die schweigend essen möchten.

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Das Plätschern eines Wasserfalls mitten in der Stadt kann man im Volksgarten hören.

Es ist nicht unbedingt religiöses Interesse, das Ruhesuchende ausgerechnet in ein Kloster gehen lässt. „Viele Menschen brauchen diesen Rahmen“, ist sich Hofmeir sicher. „Wenn ich in die Stille gehe, begegne ich mir. Wenn der äußere Lärm wegfällt, kommt zum Vorschein, was ich weggedrückt, übersehen habe.“  Viele Menschen haben Angst davor. Doch Hofmeir ist sich sicher: Wer sich auf dieses Wagnis einlässt, wird belohnt.  „Ich glaube, dass  es eine innere Regie gibt, die nur das hochkommen lässt, was verkraftbar ist, was jetzt auch dran ist“, sagt er. Wer das Gefühl hat, er muss über das reden, was da hochkommt, dem bietet der Pastoralpsychologe die Möglichkeit des Gesprächs.  Mehr als 1000 Gespräche im Jahr führen er und sein Team.  Natürlich muss man für  Momente der Stille nicht erst in ein Kloster gehen.   Man kann sie auch in den Alltag einbauen. „Stille lebt davon, dass ich mich auf eine Sache ganz einlasse“, sagt Martin Hofmeir. „Wer schafft es schon, mal nur zu frühstücken? Gleichzeitig checkt man im Handy Eingänge und guckt in die Zeitung.“  Sich mal nur darauf zu konzentrieren, wie eigentlich der Brokkoli schmeckt – gar nicht so einfach. Aber: „Es führt mich vielleicht mehr in die Tiefe als ein großes Gebet.“

Still zu sein – man muss es üben. Wo lernen wir  das schon? Natürlich wird von Kindern in der Schule verlangt,  still zu sein. Aber nicht, damit sie sich  Zeit für sich  nehmen.  „Besonders die ältere Generation hat beigebracht bekommen: Wer nichts tut, ist faul“, sagt der Pastoralpsychologe. Aber auch den Jungen wird vermittelt: Du musst Sprachen lernen, Reisen unternehmen, du musst in der Konkurrenz bestehen können, netzwerken, auf dich aufmerksam machen. Die Welt gehört den Lauten. Dabei haben die Leisen Potential: Ihre Stärke ist es, aufmerksam zu beobachten.  Auch sich selbst.   Wenn es etwas  gibt, was sich zu fasten lohnt,  dann ist es wohl Lärm. Alkohol,  Zigaretten, Essen  – vieles würden wir  wahrscheinlich  ganz selbstverständlich weglassen, wenn wir uns selbst mehr zuhören würden.