geschrieben von Frank-Walter Steinmeier

„Der wichtigste Rohstoff ist Vertrauen“
Für das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat spielen Zeitungen eine unerlässliche Rolle.

„Der wichtigste Rohstoff ist Vertrauen“ von Frank-Walter Steinmeier

Diesen Beitrag zeigen wir mit freundlicher Zustimmung des Bundespräsidialamts. Es handelt sich um die Rede des Bundespräsidenten zur 50-Jahr-Feier des „Verbands Deutscher Lokalzeitungen“, gehalten am 17. Mai in Berlin.

Unsere Zeitung ist die Lippische Landeszeitung. Die liest man daheim bei mir, in Brakelsiek. Und was drin steht, das ist wichtig. Als ich Kind war, und sie zu Hause auf dem Küchentisch lag, habe ich es geahnt, als Jugendlicher hatte ich es gelernt.

Was mein Heimatdorf, was Brakelsiek bewegte, Schützenfeste, damals noch Wettbewerbserfolge der heimischen Rasse- Geflügelzüchter und natürlich, die Fußballergebnisse des TuS 08, das stand in der Lippischen. Das ging uns an, auch mich persönlich, selten fand ich meine sportlichen Glanzleistungen vom Wochenende in den Fußballberichten am Montag angemessen gewürdigt. Aber ich habe alles gelesen – über die eigenen Spiele, über die der Konkurrenz, und darauf kommt es jetzt an: vor allen Dingen mehr und mehr die Zeitung von vorn nach hinten.

Mein erstes politisches Engagement galt der Einrichtung eines Jugendzentrums in meinem Heimatort – irgendwann in den frühen 1970ern. Nach unserem jugendlichen Willen sollte es in den Räumen meiner alten Grundschule entstehen, wo wir damals noch mit mehreren Jahrgängen zusammen in einem Klassenraum gesessen hatten, und die dann – wie viele andere Zwergschulen – geschlossen worden war. Für dieses Jugendzentrum haben wir uns engagiert, aber dass wir unser Ziel erreicht haben, war eben auch ein Verdienst der Lokalzeitung. Sie hat unser Anliegen nicht nur begleitet, sondern hin und wieder sanft nachgefasst und es über die Zielgerade getragen – ein kleiner Sieg, für mich ein nachhaltiger. Mir hat er gezeigt: Engagement kann sich lohnen, und Sie werden es nicht glauben, dieses Jugendzentrum gibt es immer noch.

Lokalpolitiker wissen: Nichts ist der eigenen Sache zuträglicher, als die Lokalzeitung für sie zu gewinnen. Keine Fürsprache ist effektiver, als die einer am Ort respektierten Zeitung. Doch das gilt nur, solange beide – Politik und Presse – die gebotene Distanz zueinander wahren. Lokalzeitungen verdienen sich den Respekt kleiner Gemeinden mit einer überschaubaren Zahl von Menschen nur, wenn sie unabhängig und kritisch bleiben. Hofberichterstattung schätzt man in Ost-Westfalen so wenig wie andernorts in Deutschland.

Ich habe jedenfalls früh gelernt: In die Lokalzeitung zu schauen, lohnt sich. Ich muss auf die große Politik dort nicht verzichten, Krisen und Konflikte in unserer Welt finden auch dort ihren Platz. Aber daneben steht eben auch anderes in der Lokalzeitung, ihr entgeht keine Hochzeit, kein Todesfall, kein Streit im Stadtrat und kein Fußballergebnis. Sie ist im besten Sinn ein Stück Heimat – für die Alteingesessenen natürlich, aber sie ist auch Hilfestellung beim Ankommen, für diejenigen, die zuziehen.

Eine gute Lokalzeitung hat ein Vertrauensverhältnis zu ihren Lesern – sie ist nah bei den Menschen, nimmt sie ernst, mit all ihren ganz unterschiedlichen Interessen. Daraus entsteht das, was die Profis dann Leser-Blatt-Bindung nennen. Sie ist aber mehr. Ich glaube, sie ist Lebensbegleiter. Meine Lippische Landeszeitung ist in diesem Februar 250 Jahre alt geworden. Man kann darin die Geschichte von Generationen lesen, von der Konfirmation der Kinder, den Erfolgen des Vaters in der Altherrenmannschaft oder dem Engagement der Mutter im Gemeinderat. Jedes Gemeindemitglied steht wenigstens einmal im Leben, zwar nicht in der BILD-Zeitung, aber mit dem Bild in seiner Zeitung – der Lokalzeitung. Ich habe das auch irgendwann geschafft.

Ich will die Anfeindungen, denen die Presse – lokal, regional und überregional – heute ausgesetzt ist, nicht unerwähnt lassen. Sie sind, das haben mir in den letzten Jahren viele Gespräche mit Journalisten bestätigt, durchaus real. Ich weiß, Hassmails, wütende Leserbriefe machen den Redaktionen das Leben oft genug sauer. Ich glaube dennoch nicht an eine stetige Erosion des Vertrauens in die deutschen Medien. Studien, Statistiken geben eine solche Entwicklung auch – bisher jedenfalls – nicht her. Die Mehrheit der Bundesbürger vertraut den Medien, den Tageszeitungen ebenso wie dem öffentlichen-rechtlichen Rundfunk. Die eigentliche Gefahr scheint mir eine immer deutlicher werdende Polarisierung innerhalb der Gesellschaft, eine immer aggressivere Meinungsgegnerschaft zu sein. Es geht um die Frage: Gestehen wir dem Gegenüber eigentlich noch einen Platz am Tisch zu? Und wie sieht dieser Tisch im digitalen Raum eigentlich aus?

Ob den Medienverächtern, die uns eine Neuauflage des Begriffs “Lügenpresse” beschert haben, bewusst ist, an welchem Kapitel der deutschen Geschichte sie Anleihe nehmen, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob ihnen klar ist, wer diesen Begriff geprägt hat. Diejenigen, die ihn heute benutzen, beklagen ja nicht nur die Verfälschung von Fakten, sondern mehr noch die Unterdrückung einer Meinung – in der Regel, die der eigenen. Die Fundamentalisten unter ihnen verbinden in ihren Verschwörungstheorien auf wundersame Weise den Zweifel an der Recherche und Berichterstattung von Journalisten mit dem Anspruch auf die Wahrheit der eigenen Erkenntnis.

Es hat dergleichen immer wieder gegeben, und wir werden uns aller Voraussicht nach von der Dummheit nicht befreien können. Was uns dagegen gelingen muss, ist, die entstandenen Echoräume aufzubrechen und einen Kommunikationsinfarkt zu verhindern. Demokratie ist auf gelingende Kommunikation angewiesen, sie baut auf Vermittlung und auf die Möglichkeit des Kompromisses in der Gesellschaft.

Und gerade dafür brauchen wir freie und unabhängige Medien, und dafür brauchen wir Sie, brauchen wir Zeitungen. Wir brauchen sie nicht konzentriert auf einige wenige große Medienunternehmen, sondern in möglichst großer Vielfalt, nicht nur in den Ballungszentren und Großstädten, sondern auch als Lokalzeitungen, überall auf dem Land. Wir brauchen gut gebildete, ausgebildete, engagierte Journalisten, ausgestattet mit Zeit und Mitteln für Recherche und vor allen Dingen einem eigenen hohen Anspruch an die Qualität ihrer Arbeit. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wenn diese Ressource schwindet, wenn die Auflagen der Zeitungen in Deutschland zurückgehen, die Zahl der Abonnenten sinkt und Zeitungen meistens gemeinsam mit den Lesern in die Jahre kommen.

Sie alle, meine Damen und Herren, haben sich die Frage, wie das zu gewährleisten ist, mehr als einmal gestellt.

Fragt man den Verband, dessen 50-jähriges Bestehen wir heute feiern, dann haben Sie gemeinsam – wenn auch nicht auf alle, aber doch auf einige Fragen – durchaus ermutigende Antworten gefunden. Aus dem Einbruch des Anzeigengeschäfts sind – unter dem Dach einiger Verlage – kostenlose, aber lukrative Anzeigenblätter entstanden. Auf den Rückgang der Abonnenten haben viele mit einem breiteren, multimedialen Angebot reagiert. So ist für die Lokalzeitungen aus der Herausforderung der Digitalisierung durchaus eine Chance geworden, nicht für alle, aber für viele.

Die Verlage sind kreativ geworden in den letzten Jahren. Wer darüber nachdenkt, dem wird schnell bewusst, welches Potenzial in dem digitalen, interaktiven Medium für Lokalzeitungen liegt. Wenn ich an den Bau von Umgehungsstraßen denke und den Streit über Pläne und die Realisierung. Das kann in Veranstaltungen mit Verantwortlichen aus dem Rathaus besprochen werden, aber man kann das auch interaktiv tun, wie einige von Ihnen es vorgemacht haben, auf eigens dafür eingerichteten Seiten der digitalen Ausgabe der Tageszeitung.

All das lässt sich mit Hilfe digitaler Kommunikation bündeln. Die Tugenden der Profession, seriöse Recherche, Analyse und Bewertung, das wird für immer Kern eines guten Journalismus bleiben. Kommunikation im digitalen Zeitalter ist da nicht eine Garantie, aber sie bietet Möglichkeiten, sich diese Tugenden zu bewahren.

Klar muss sein: Noch so elaborierte Technik wird nicht und niemals Erfahrung, Sorgfalt, Wahrheitsanspruch, einschließlich der Überprüfung von Quellen, ersetzen können. Können nicht – aber es findet doch möglicherweise statt. Trends sind auch hier erkennbar. Deshalb will ich die Lage nicht beschönigen. Die Digitalisierung stellt – bei allen Möglichkeiten, die sie bietet – das wirtschaftliche Modell des Journalismus durchaus in Frage. Wer daran gewöhnt ist, Berichte, Analysen und Kommentare, in welcher Qualität auch immer, per Mausklick frei ins Haus zu bekommen, dem ist eben nur noch schwer beizubringen, dafür zu bezahlen. Doch eben das wird nötig sein, weil auf Dauer Qualität nicht umsonst zu haben ist.

Die Aufgabe, die sich Ihnen, meine Damen und Herren, den Verlegern, stellt, bleibt die alte: ökonomischen Erfolg und publizistisches Ideal auf immer neue Art und Weise miteinander zu verbinden. Ich weiß, es ist keine leichte Aufgabe, zumal die demographische Krise, die ich mit dem Älterwerden der Leser nur kurz skizziert habe, gerade im ländlichen Raum seine Wirkungen zeigt. Aber dass Sie sich alle dieser großen Aufgabe immer wieder und immer wieder neu stellen, dafür haben Sie meinen allergrößten Respekt. Die Bedingung für Ihre Aufgabe hat sich in den letzten Jahren schneller verändert als uns lieb war. Wie groß die Herausforderung ist, können sie mühelos an der Altersstruktur ihrer Leserschaft und am Rückgang der Abonnentenzahlen ablesen.

Aber auch diese Krise, glaube ich, bietet Chancen für die Lokalberichterstattung. Vielerorts sind die digitalen Ausgaben mittlerweile zu so etwas wie Infoguides einer sich verändernden Gesellschaft geworden: Fahrgemeinschaften, soziales Engagement, Sportveranstaltungen, Stammtische und vieles mehr, all das wird es auch in Zukunft nur geben, wenn die Nachricht davon den Adressaten auch erreicht. Und dafür können Sie mit diesen digitalen Möglichkeiten tatsächlich sorgen.

Meine Bitte ist deshalb an Sie alle: Erhalten Sie diese Schnittstellen, holen Sie die Menschen ins gesellschaftliche Leben, geben Sie ihnen, soweit möglich, Orientierung. Haben Sie den Anspruch, auch die Themen zu vermitteln, die jenseits der Grenzen des Landkreises liegen. Auch die überregionale und internationale Berichterstattung braucht Raum und verlangt Sorgfalt. Ich habe das als Außenminister, kann ich Ihnen versichern, tausendfach gehört: Die Welt ist unsicherer geworden, unübersichtlicher, alte Erklärungsmuster taugen nicht mehr. Die Folge davon ist, dass die Bürger nicht nur mich, sondern auch Sie nach mehr Orientierung fragen: Was ist eigentlich los in der Ostukraine? Wie ist das mit Syrien? Nach sechs Jahren Krieg immer noch kein Frieden? Wie entwickelt sich das in der Türkei? Natürlich machen wir alle als Politiker unsere Veranstaltung, landauf, landab. Doch wer, wenn nicht der Chefredakteur der Lokalzeitung, kann da vor Ort ein verlässlicher Wegweiser sein? Deshalb meine Bitte: Lassen Sie sich ruhig an der Berufsehre packen – scheuen Sie sich nicht, die Komplexität der Welt zu erkennen und sie zu beschreiben.

Und jungen Leuten rate ich, ab und zu den Blick vom Smartphone zu heben und keine Angst vor dem Blick in die wirkliche Welt zu haben. Und Ihnen, den etwas älteren, möchte ich sagen: Verstehen Sie die Digitalisierung als Chance – aber bauen Sie bitte auch weiter auf Ihre Verankerung in der Offline-Welt. Am Ende habe ich Ihnen dazu noch eine kleine Aufmunterung aus jüngsten Erfahrungen mitzuteilen. Neulich, auf meiner Antrittsreise durch die deutschen Bundesländer, die in Bayern begonnen hat, habe ich mich mit den Allerjüngsten aus Ihrer Profession getroffen, mit einer Gruppe von Schülerzeitungsredakteuren. Die haben natürlich ein Interview mit mir gemacht, und ich habe die dann nach dem Interview gefragt: “Wie informiert Ihr Euch eigentlich? Lest Ihr Zeitungen, guckt Ihr Fernsehen?” Sie ahnen die Antwort: “Weder das eine noch das andere. Informationen kommen natürlich aus dem Internet.” Und dann habe ich sie gefragt: “Und jetzt nach dem Interview, wenn Ihr das jetzt aufschreibt und wenn das veröffentlicht wird – wo erscheint das eigentlich? Online, im Internet oder in der Schülerzeitung?” Und da sagten die: “Nee, das drucken wir natürlich.” – “Und warum?” – “Weil es doch gelesen werden soll!”

Deshalb nutzen Sie ihre Möglichkeiten, seien Sie Moderator von demokratischen Prozessen. Vertrauen ist das Pfund, mit dem Sie hier wuchern können. Glaubwürdigkeit, ein guter Name sind vielen Menschen Orientierung in dieser Zeit. Die Lokalpresse, das will ich Ihnen zurufen, muss ein Anker unserer Demokratie bleiben. Und dem Verband rufe ich zu: Herzliche Glückwünsche zum 50. Geburtstag.

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