Die Silvesternacht 2015 wird auf doppelte Weise negativ in die Erinnerung der Stadt Köln eingehen. Zunächst aufgrund des katastrophalen Geschehens in der Nacht selbst, in der statt Freude über das neue Jahr Unsicherheit und Kontrollverlust auf dem Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs herrschten und insbesondere Frauen durch tätliche Angriffe ihrer Würde beraubt wurden. Aber auch wegen der späteren Berichterstattung hat sich diese Nacht eingeprägt: Auf reale Grenzüberschreitungen folgten Grenzüberschreitungen in sozialen Netzwerken und Online-Artikeln.
Blanke Diffamierungen, Pauschalisierungen und der Ruf nach „schnellen Lösungen“ sind bei derartigen Ereignissen leider keine Seltenheit mehr. Unter Begriffen wie „Hate Speech“ oder „Fake News“ subsumieren wir mittlerweile mit erschreckender Selbstverständlichkeit diese um sich greifenden Entwicklungen im digitalen Raum, und es scheint schwer, dagegen vorzugehen. Anhand der Diskussionen im Netz zeigte sich die Ambivalenz der neuen Medien und Online-Berichterstattung: Ist das Netz das Medium der freien Kommunikation oder der Enthemmung?
Das Netz galt als ideale demokratische Plattform
In den Anfangstagen des Internets verbanden sich mit der neuen Technologie Hoffnungen: Das Netz galt als ideale demokratische Plattform, auf der sich die „Netzgemeinde“ gleichberechtigt und über Grenzen hinweg austauschen und ihr Wissen teilen kann. Es gibt die positiven Beispiele, wo Menschen online Kontakt halten, einander helfen und sich austauschen. An anderen Stellen erleben wir, wie durch die Anonymität im Netz Menschen enthemmt miteinander umgehen. Im anonymen Netz radikalisiert man sich leichter, die Sprache verroht, und „Echo-Kammern“ entstehen. Jeder Nutzer kann eine eigene Medienagentur sein und sich in die öffentliche Debatte einschalten. Wenn diese neuen publizistischen Möglichkeiten dazu führen, dass man sich gegenüber anderen Meinungen verschließt und niemandem vertraut außer sich selbst, leisten die Neuen Medien Verschwörungstheorien Vorschub.
Das Netz ist keine Verdoppelung der Welt. Auch die virtuelle Welt bleibt gebunden an Fakten. Kardinal Rainer Maria Woelki
Manche Debatte kann aufgrund dieser Tendenzen nur als Rückschritt bezeichnet werden. Früher haben fachlich ausgebildete Redakteure nach Maßgaben recherchiert, wie sie der Presserat im Pressekodex gleich unter Ziffer 1 festgelegt hat: Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde. Durch die „Tür-wächter-Funktion“ von Redakteuren war es schwerer, groben Unfug zu verbreiten. Die Online-Welt ist in vielen Fällen beliebiger, und Qualitätskriterien verwischen schneller: Geltung statt Inhalt, Reichweite statt Wahrheit. Wir erleben, dass Fakten mit einem Federstrich weggewischt oder geradewegs geleugnet und durch „alternative Fakten“ ersetzt werden. Was kann diese Entwicklung aufhalten?
Zunächst sollte klar sein: Das Netz ist keine Verdoppelung der Welt. Auch in der virtuellen Welt sprechen wir über reale Dinge. Die virtuelle Welt bleibt verwiesen auf Personen und Geschehen, die wirklich existieren. Sie bleibt gebunden an Fakten, die redlich und mit Sachkenntnis recherchiert werden müssen. Und Personen im Netz entsprechen realen, mit Würde ausgestatteten Personen in der Realität, die einen Anspruch auf Respekt und würdige Behandlung haben. Auch im vermeintlich anonymen Kommunikationsraum des Internets gilt es, diesem Bezug auf wirkliche Dinge gerecht zu werden.
Der Freiheit des Netzes muss eine sinnvolle Ordnung gegeben werden
Das hohe Maß an Freiheit, das die Neuen Medien mit sich bringen, erfordert auch eine besondere Verantwortung. Die vielen neuen Möglichkeiten der Online-Welt müssen kultiviert, der Freiheit des Netzes muss eine sinnvolle Ordnung gegeben werden. Andernfalls droht die neue Freiheit zur Beliebigkeit zu verkommen oder sich ins Gegenteil zu verkehren. In vielen Fällen sind hier Gesetzgeber und Justiz gefragt. Wenn es zu Hass-Exzessen kommt oder gar zu Mord aufgerufen wird, muss der Staatsanwalt auf Basis der entsprechenden Gesetze konsequent eingreifen. Auch die Betreiber von Plattformen können sich ihrer Sorgfaltspflicht nicht entziehen.
Das hohe Maß an Freiheit, das die Neuen Medien mit sich bringen, erfordert auch eine besondere Verantwortung. Kardinal Rainer Maria Woelki
Angesichts der ungeheuren Zahl an Kommunikationsvorgängen im Netz reicht der Ruf nach Sanktionen aber nicht aus. Auch der einzelne Nutzer darf nicht schweigen. Ob der Zuwachs an Freiheit durch die Neuen Medien dem Wohl aller dient, hängt auch von jedem einzelnen ab. Die hierfür nötige Tugend heißt Demut. Denn demütig sein bedeutet, die eigene Meinung zu relativieren und auch Äußerungen gegen sich selbst gelten zu lassen. Demut ist das Gegenteil von Hochmut oder Besserwisserei: Kritik ja, aber mit Respekt und Sachkompetenz und ohne Bevormundung. Dazu gehören die Offenheit für andere Positionen und Vertrauen und Bereitschaft zu Diskurs. Eine Unterschreitung dieser Kriterien sollte auch im Bereich der neuen Medien von keinem Benutzer akzeptiert oder gar aktiv befördert werden.
Zur Person
Kardinal Rainer Maria Woelki, geboren 1956, ist seit 2014 Erzbischof von Köln. In einer wöchentlichen Videobotschaft auf domradio.de kommentiert der Kardinal häufig auch gesellschaftliche Entwicklungen. Woelki gehörte 2016 zu den Erstunterzeichnern der „Kölner Botschaft“. (jf)
Auch für Menschen, die digital publizieren oder in Sozialen Medien aktiv sind, gilt der Kern des journalistischen Handwerks: Kritik und Selbstkorrektur des demokratischen Systems durch Transparenz, Redlichkeit und Anerkennung anderer Meinungen. Durch Orientierung am Gegebenen, nicht am Konsens bestimmter Gruppen. Der Wächter-Preis für die nachhaltige und fundierte Recherche des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zur Silvesternacht 2015 zeigt, dass die Umsetzung in diesem Fall gelungen ist. Der Preis ist zugleich Ausdruck und Wertschätzung gegenüber diesen klassischen Tugenden journalistischer Arbeit.
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