geschrieben von Stephan Gruenewald

Wachsamer Wachmacher
Als Sparringspartnerin bietet die Zeitung ihren Lesern herausfordernde und unbequeme Ansichten. Ein Gastbeitrag

Wachsamer Wachmacher von Stephan Gruenewald

Die Kölner Silvesternacht hat deutlich gemacht, wie wichtig eine freie Presse mit Verankerung in der Region ist. Die Lokalpresse als vierte Gewalt wacht am Rhein und anderswo. Sie ist Augenmerk und Sprachrohr ihrer Region. Gerade indem sie tagesaktuell artikuliert, was läuft oder schiefläuft, vermittelt sie langfristig das beruhigende Gefühl, den Wechselfällen des Lebens nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein.

Auch jenseits von Skandalen, Katastrophen und spektakulären Events fördert die Lokalpresse die Wachsamkeit. Die Zeitung ist für viele Menschen nach wie vor ein fast unverzichtbarer Wachmacher. Bereits der oft noch morgenmüde Gang zum Briefkasten geschieht in einer Mischung aus Zuversicht und Vorfreude, jetzt gleich das Heft in die Hand nehmen zu können. Die Materialität der Zeitung ist ein oft verkannter Vorteil gegenüber den digitalen Medien. Sie vermittelt das Gefühl von tätigem Anpack und nährt die Hoffnung, selbst das Unfassbare fassbar machen zu können. Das Lesen der Zeitung ist der erste Kraftakt des Tages, eine Expedition durch Zeilenwüsten und Druckerschwärze.

Ihre Funktion als wachsamer Wachmacher erfüllt die Zeitung auch, weil sie beim Übergang zwischen Traum und Tag hilft. Bei ständig wechselnder Nachrichtenlage schafft die Zeitung durch ihr stets gleiches Erscheinungsbild Vertrauen. Egal wie beunruhigend das Weltgeschehen ist – solange die Zeitung ihr vertrautes Gesicht hat, scheint die Welt selbst noch in Ordnung zu sein. Während wir die Zeitung wie eine Schutzwand vor uns ausbreiten, tauchen wir noch einmal in die (alb-)traumhaften Seiten unserer Wirklichkeit ein. Die Zeitung eröffnet einen Blick in die Abgründe, Sehnsüchte und Verkehrungen des Lebens. Berichte über Unfälle, über persönliche Entgleisungen, über Ehekriege und neue Lieben, über Katastrophen- und Glücksfälle führen uns das ganze Schicksals-Spektrum unseres Alltags vor Augen – vom höchsten Triumph bis zum größten Desaster.

Zur Person

Stephan Grünewald ist Psychologe und Geschäftsführer des „rheingold“-Instituts in Köln. Er untersucht in seinem Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen unter anderem auch die Bedeutung der Zeitung für ihre Leser. Grünewald ist Bestsellerautor und Kolumnist des „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Niemand liest die Zeitung akribisch in der vorgegebenen Reihenfolge. Aus dem riesigen Flickenteppich langer und kurzer Beiträge picken wir uns unbewusst diejenigen heraus, die ein für uns aktuelles Thema aufgreifen. Wer den Impuls verspürt, sein Leben zu ändern, der verfolgt alles, was um das Thema Neuanfang kreist: den Brexit, den anstehenden Vereinswechsel des Torjägers, die Erfolgsgeschichte eines Start-up-Unternehmens oder die Story über ein neues Liebesglück.

Unsere Wachheit und Wachsamkeit fördert die Zeitung aber auch, indem sie uns nicht nach dem Mund redet. Als Sparringspartnerin konfrontiert sie uns mit anderen Perspektiven oder unbequemen Ansichten. So provoziert sie Denkanstöße und ein notwendiges Maß an Empörung, um dynamisch durch den Tag zu kommen. Diese Empörung ist zudem höchst produktiv. Die bisweilen hitzige Auseinandersetzung mit der anderen Sicht der Zeitung hält uns dazu an, eine eigene Position einzunehmen. Armiert mit den Argumenten der Zeitung oder den von uns entwickelten Gegenargumenten, können wir uns voller Energie in Diskussionen mit der Familie, mit Freunden oder Kollegen stürzen.

Doch in allem Streit ist die Tageszeitung auch eine Streiterin für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – gerade weil sie ein breites Spektrum an Meinungen und Befindlichkeiten wiedergibt und dieser Vielfalt Ausdruck verleiht. Nur Konflikte, die artikuliert werden, lassen sich auch moderieren. Von daher wünschen sich Leser von ihrer Zeitung, dass sie gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung für eine gemeinsame Orientierungs- und Wertebasis eintritt. Die „Kölner Botschaft“ zur Silvesternacht 2015 war in diesem Sinne ein wichtiger Beitrag, die in der Bevölkerung auseinanderdriftenden Wünsche nach Sicherheit und Toleranz in einen neuen Einklang zu bringen.

In einer Welt digitaler Selbstbezüglicher ist die Gefahr groß, dass solche gemeinsamen Anstrengungen nicht mehr erfolgen. Viele Menschen kreisen im Internet nur noch um ihre eigenen Interessen, Hobbys oder Sichtweisen. Sie ziehen sich aus der überkomplexen Welt in ihre privaten Echoräume zurück, umgeben sich dort nur noch mit Gleichgesinnten.

Diese digitale Selbstbezüglichkeit verträgt sich zwar nicht mit dem Anspruch der wachsamen, vielfältigen und pluralen freien Presse, bedeutet aber nicht zwangsläufig deren Ende. Gerade der Lokalteil der Zeitung kann in der digitalen Welt neu das Tor zur wirklichen Welt öffnen. Die lokale Berichterstattung erlaubt es den Lesern, sich in ihrer Region zu verorten. Sie lenkt den Blick auf die unmittelbare Umgebung, schärft die Sinne der Leser für die Belange ihrer Heimat. Als Regional-Kompass gibt sie ihnen nicht nur Orientierung, sondern stiftet auch dazu an, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Die Lokalzeitung stärkt dadurch die regionale Selbstgewissheit. Sie ist für viele Menschen der Herzanker in ihrer Heimat. Damit nährt sie – selbst mit kritischen Berichten – beständig die selbstbewusste, stolze Verbundenheit der Menschen mit ihrer Stadt oder Gemeinde samt deren Traditionen und einer wechselvollen Geschichte. Solche Nahrung brauchen die Menschen, um vertrauensvoll voran gehen zu können.

Die Lokalzeitung weckt die Lust an der Weiterentwicklung einer Stadt oder Region. Als Perspektiv-Förderer hilft sie, ein verheißungsvolles Bild davon zu entwickeln, wie Stadt und Land einmal aussehen könnten. Weil Zukunft Zeitung braucht, hat Zeitung Zukunft.

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