geschrieben von Joachim Frank

Kontrollierte Kontrolleure
Nur mit einem kritischen Verhältnis des Publikums und beständiger Selbstreflexion können die Medien ihre kommunikative Funktion erfüllen.

Kontrollierte Kontrolleure von Joachim Frank

Die Nacht, die Deutschland veränderte. So haben die Express-Reporter Gerhard Voogt und Christian Wiermer ihr Buch betitelt, das die Geschehnisse in Köln an Silvester 2015 und die anschließende Aufklärungsarbeit zusammenfasst. Überschriften, Leser wissen das, tendieren zur Überspitzung. Nicht so in diesem Fall. Die schockierenden Bilder und die Erlebnisberichte der Opfer über massenhafte sexuelle Übergriffe und über den Totalausfall der Polizei als staatlicher Schutzmacht waren tatsächlich ein Wendepunkt der Stimmung im Angesicht der „Flüchtlingskrise“. Das Trauma sei bis heute nicht überwunden, sagt Friedenspreisträger Navid Kermani im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger.“

Aber die Silvesternacht hat nicht nur Deutschland und seine Debatten über Integration, über Kriminalitätsbekämpfung, über die Selbstbehauptung der offenen Gesellschaft gegen Angriffe von außen und Aushöhlung von innen verändert. Vielmehr wird seither auch intensiv über die Rolle der Medien diskutiert – so auch auf unseren Seiten heute. Die Verleihung des „Wächterpreises“ bietet Anlass für eine Würdigung der freien Presse, aber auch für kritische Anfragen. Beides ist wichtig. Medien sind nicht – wie es der Gattungsbegriff nahelegen könnte – technisch-neutrale, unbeteiligte Vermittler. Sie brauchen das Gegenüber ihres Publikums. Nur als kontrollierte Kontrolleure können sie in der Demokratie ihre kommunikative Funktion erfüllen. Und nur mit unablässiger Selbstreflexion verhindern sie Überheblichkeit und den Verlust an Bodenhaftung. Das mahnen Medienwissenschaftler und Ethiker aber auch die Medienleute selbst immer dann an, wenn die Berichterstattung über Skandale, Katastrophen, spektakuläre Verbrechen oder menschliche Tragödien Streit auslöst.

Nach der Silvesternacht 2015 ging es speziell um Frage, unter welchen Umständen die Herkunft von Tätern oder Verdächtigen in die Berichterstattung über Straftaten eingehen soll. Dazu diskutierte und veränderte die Branche ihre standesethische Basis-Urkunde, den „Pressekodex“: Journalisten sollen, so die Neufassung der Richtlinie 12.1, einerseits Diskriminierung und Vorurteile vermeiden, andererseits dem „begründeten öffentlichen Interesse“ an der Nennung der Täterherkunft entsprechen. Die doppelte Stoßrichtung zeigt: Es muss weiterhin abgewogen werden. Öffentlicher Diskurs verträgt keine Dogmen.

Ebenso wenig wie die Regeln im Journalismus. Der Journalismus verändert sich, stellt Günter Wallraff in seinem Gastbeitrag fest. Zwei Beispiele aus der Praxis. Das erste hat es noch einmal mit Überschriften zu tun. Fragezeichen am Ende einer Schlagzeile waren früher verpönt. „Journalisten geben die Antworten“, hieß es dazu in der Volontärsausbildung selbstbewusst. Heute tun selbst- und verantwortungsbewusste Journalisten gut daran, zu zeigen und zu sagen: Auch wir wissen nicht alles. Auch uns fehlt in komplexen Fragen oder bei aktuellen Geschehnissen der Überblick. Auch wir stellen Fragen – stellvertretend für Leser, Hörer oder Zuschauer. Offen gelegtes Nicht-Wissen ist besser als behauptete Allwissenheit.

Oder, zweites Beispiel, der so häufig zitierte wie selten hinterfragte Leitsatz vom guten Journalisten, der sich „nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache“. Damit wollte der verstorbene „Tagesthemen“-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs nicht etwa eine wertfreie Berufsauffassung propagieren, sondern „nur“ vor einseitiger Parteinahme ohne den notwendigen Kontrollblick warnen, vor unkritischem Lobbyismus und erst recht vor falscher Komplizenschaft. Wenn aber Grundwerte der Demokratie und der Humanität auf dem Spiel stehen, ist der Journalismus zur Parteinahme herausgefordert. Deswegen hat sich die Redaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Januar 2016 mit der Veröffentlichung der „Kölner Botschaft“ aus der neutralen Ecke des Beobachters heraus- und als Akteurin in den Ring begeben.

„Unabhängig, überparteilich“, wie es in der Kopfzeile der Printausgabe des „Kölner Stadt-Anzeiger“, bedeutet eben nicht „unparteiisch“. Der „Mann ohne Eigenschaften“, den Heinrich Mann in seinem Roman „der Untertan“ als Zerrbild des Bürgers beschrieben hat, ist auch der Gegenentwurf zu einem Journalisten mit Haltung – einem guten Journalisten, ob Mann oder Frau.

In zahlreichen Texten setzen wir und unsere Gastautoren uns heute mit der Berichterstattung zur Silvesternacht, dem Wandel der Medienlandschaft, der Meinungs- und Pressefreiheit und den Aufgaben des Journalismus auseinander. Klicken Sie sich durch die Beiträge, die unten aufgeführt sind, um Stimmen von Navid Kermani oder Günter Wallraff zu lesen, um zu erfahren, was der Wächterpreis ist oder um noch einmal auf einen Blick zu sehen, wie die Berichterstattung zur Silvesternacht 2015 ablief.

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