geschrieben von Tim Stinauer

119 Schüsse im Stadtwald
Vor 40 Jahren entführten RAF-Terroristen Wirtschaftsboss Hanns Martin Schleyer in Köln-Braunsfeld und töteten vier Menschen.

119 Schüsse im Stadtwald von Tim Stinauer

Der Manager

Es ist früh am Morgen des 5. September 1977, als Hanns Martin Schleyer sein Haus in Stuttgart verlässt. Ein Montag. Die Familie schläft noch. Ein Fahrer chauffiert den Arbeitgeberpräsidenten, Vorsitzenden des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und Vorstandsmitglied von Daimler Benz, zum Flugplatz. Dort steht der Daimler Firmenjet „Falcon“. Um 7.15 Uhr landet Schleyer in Köln.

Hier, am Oberländer Ufer, residiert der Arbeitgeberverband. In der Raschdorffstraße 10 in Köln-Braunsfeld bewohnt der 62-Jährige von Montag bis Freitag ein Dienstappartement. Nur die Wochenenden verbringt der vierfache Vater für gewöhnlich in Stuttgart.

Schleyer ereldigt einige Termine an diesem 5. September: eine Lagebesprechung mit seinen Fachreferenten, eine Präsidiumssitzung, ein paar Telefonate. Gegen 17 Uhr verlässt er das Büro, steigt zu seinem Fahrer Heinz Marcisz in einen 450er Mercedes, um sich in die Raschdorffstraße bringen zu lassen. Der Stuttgarter Manager und sein Kölner Fahrer kennen sich schon lange, die Familien mögen sich. Die Ehefrau des Chauffeurs, Anna Marcisz, arbeitet als Reinigungskraft, sie hält auch Schleyers Appartement in Braunsfeld in Ordnung.

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Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer

dpa

In einem zweiten Mercedes folgen drei Leibwächter vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg: Reinhold Brändle (41), Helmut Ulmer (24) und Roland Pieler (20). Sie merken nicht, dass sie beobachtet werden. Das RAF-Kommando „Siegfried Hausner“ hat Späher entlang der Strecke positioniert. Die Terroristen Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann, Willy Peter Stoll und Stefan Wisniewski sitzen in einem Café an der Aachener Straße. Was gleich folgt, ist Teil eines Plans, den die RAF intern „Big Raushole“ nennt: die Entführung Schleyers, um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und andere RAF-Mitglieder aus dem Gefängnis freizupressen.

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Schleyer-Terroristen
Die vier Schleyer-Entführer (v.l.): RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann, Willy Peter Stoll und Stefan Wisniewski

dpa

Einer der Streckenposten ruft im Café an und gibt das vereinbarte Codewort für den Überfall durch: „Mendocino“, benannt nach dem damals populären Song von Michael Holm. Die vier Terroristen stürmen aus dem Lokal: Stoll und Wisniewski fahren in einem gelben Mercedes zur Kreuzung Vincenz-Statz-Straße/Ecke Friedrich-Schmidt-Straße, ein paar Hundert Meter entfernt von Schleyers Wohnung. Den Mercedes parken sie auf der Vincenz-Statz-Straße vor einer Hauseinfahrt. Boock und Hofmann sind in einem VW Bulli hinterhergefahren. Sie stellen den Transporter hundert Meter entfernt an der Kreuzung ab. Laden einen blauen Kinderwagen aus, in dem sie Maschinenpistolen versteckt haben. Es ist 17.28 Uhr, als der Schleyer-Konvoi um die Ecke biegt. Plötzlich muss Fahrer Heinz Marcisz hart auf die Bremse treten: Das Heck des Mercedes, in dem Stoll und Wisniewski sitzen, blockiert die rechte Straßenhälfte, nach links ausweichen kann Marcisz nicht. Auf der Fahrbahn steht der blaue Kinderwagen. Dann geht alles ganz schnell.

Wie von Sinnen entleeren die Terroristen ihre Magazine in Schleyers Wagen und in das zivile Polizeiauto. 119 Schüsse. Marcisz und die drei Personenschützer haben keine Chance. Sie sterben an Ort und Stelle. Den unverletzten Arbeitgeberpräsidenten zerren die Terroristen in den Bulli und rasen mit ihm davon.

Zwei Stunden später meldet der Hausmeister eines Hochhauses am Wiener Weg in Junkersdorf den VW in der Tiefgarage unter dem Wohnkomplex. Der Wagen ist leer. Die Entführer haben Schleyer in ein anderes Auto umgeladen und sind mit ihm nach Liblar geflohen.

Der Reporter

„Reg dich jetzt bitte nicht auf, der Schleyer ist entführt worden.“ Es ist 18.15 Uhr, als Christa Buchholz, Sekretärin in der Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“, bei Polizeireporter Günther Braun anruft. Der 30-Jährige ist zu Hause, er hat frei. „Ich komme sofort“, antwortet er.

Mit seinem Presseausweis gelangt er bis zur inneren Absperrung, etwa hundert Meter vom Tatort entfernt. Freie Sicht. Der Reporter sieht die drei ineinander verkeilten Autos. Er sieht die vier toten Männer auf der Straße liegen, notdürftig abgedeckt mit Planen. Braun will per Funkgerät einen ersten Bericht an die Redaktion durchgeben, da tritt eine gelockte Frau mit schwarzer Hose und weißem T-Shirt an ihn heran. Sie wirkt nervös, besorgt. Ihre Schwester hat sie von der Arbeit abgeholt und nach Braunsfeld gebracht, weil es in den Nachrichten hieß, Schleyer sei entführt, sein Chauffeur erschossen worden.

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Günther Braun war als Reporter vor Ort.

Peter Rakoczy

„Sind Sie von der Polizei?“, fragt die Frau den Reporter. „Worum geht es denn?“, antwortet Braun. „Mein Name ist Marcisz, mein Mann ist der Fahrer vom Doktor Schleyer. Können Sie mir sagen, was da vorne passiert ist?“

Noch 40 Jahre später hat Günther Braun die Szene genau in Erinnerung: „Mir stockte der Atem“, erzählt er heute. Natürlich weiß er, was passiert ist. „Ich überlegte eine Sekunde, dann brachte ich die Frau zu einem erfahrenen Journalistenkollegen. Den bat ich, sie zur Leitstelle der Polizei zu begleiten, was er auch getan hat.“ Die Leitstelle war spontan in einem Einfamilienhaus eingerichtet worden. „Ich wusste, dass da auch ein Arzt war“, erzählt Braun. Als Anna Marcisz dort endlich die Wahrheit erfährt, bricht sie zusammen.

Unterdessen strömen immer mehr Schaulustige und Polizisten zum Tatort. Ermittler vom Bundeskriminalamt aus Bonn und Wiesbaden treffen ein. „Wenn ihr den Dom vor euch habt, fahrt ihr in die Stadt rein. Wenn der hinter euch ist, fahrt ihr wieder raus“, weist die Kölner Leitstelle den ortsfremden Kollegen über Funk notdürftig den Weg.

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Der Tatort heute: Nachdem die Schleyer-Kolonne von der Friedrich-Schmidt-Straße (links) in die Vincenz-Statz-Straße abgebogen war, eröffneten die Terroristen das Feuer.

Peter Rakoczy

Braun bleibt die ganze Nacht vor Ort. Steht unauffällig neben seinem Auto und beobachtet die Spurensicherung. Niemand schickt ihn weg. Ein paar örtliche Polizisten kennt er gut, sie lassen ihn gewähren. „Hinz und Kunz haben sie verscheucht, ich durfte bleiben. Die waren auch auf mich angewiesen“, sagt Braun. „Ich war der einzige, der noch Zigaretten hatte.“

Gegen sechs Uhr fährt er nach Hause: kurz duschen, dann wieder raus zum Tatort. Für Schlafen, Familie und Hobbys bleibt in den folgenden Wochen wenig Zeit.

Die Tochter

Also gut, was spricht eigentlich dagegen, fragt sie sich. Sie könnte ihm ja wenigstens mal in die Augen gucken und sehen, wie er reagiert. 2002 nimmt Ute T. nach langem Zögern eine Einladung in die ARD-Talksendung „Fliege“ an. Das Team von Moderator Jürgen Fliege hat auch den Ex-Terroristen Peter-Jürgen Boock eingeladen und will ihn nun vor der Kamera mit der Tochter des erschossenen Schleyer-Chauffeurs konfrontieren. Ute T. ist nervös. Sie fragt Boock: „Warum haben Sie meinen Vater ermordet? Warum haben Sie Familien zerstört?“

Aber Boock habe nur dagesessen und weggeguckt, erinnert sich die 54-Jährige heute. Das habe sie wütend gemacht. Ein zweites Mal, sagt sie entschieden, würde sie sich mit einem Terroristen nicht an einen Tisch setzen. „Wenn ich an die denke, spüre ich Wut. Und Hass. Das wird auch nicht weniger mit den Jahren.“

Ute T. sitzt in einer ruhigen Ecke inmitten eines trubeligen Cafés in Chorweiler. Auch vor diesem Gespräch hat sie lange überlegt, ob sie es führen soll. Bis auf ihren Auftritt bei „Fliege“ hat sie nie mit Journalisten gesprochen. Es drängt sie nicht in die Öffentlichkeit. Andererseits, sagt sie, wurmt es sie, dass sich in den Medien alles immer nur um Schleyer drehe, wenn von der Entführung die Rede sei. Dass auch die Familien des erschossenen Fahrers – ihres Vaters – sowie der drei Polizisten bis heute leiden, interessiere kaum jemanden. Deshalb hat sie einem Treffen mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ schließlich zugestimmt.

„Mein Vater war ein wundervoller Mensch“, beginnt sie. „Es gab keine besseren Eltern, sie waren unersetzbar.“ In den Monaten vor dem Attentat hätten Familie und Freunde ihren Vater oft gedrängt, seinen Beruf zu wechseln. „Wir hatten Angst um ihn“, sagt Ute T. Aber Heinz habe nur erwidert: „Ach was. Und falls mal was passiert, nehmen die nur den Schleyer mit, mich lassen die doch laufen.“

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Heinz-Marcisz
Fahrer Heinz Marcisz starb im Kugelhagel.

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Als Heinz Marcisz im Kugelhagel auf der Vincenz-Statz-Straße stirbt, ist seine Tochter 14, ihr Bruder 18. An den Abend im Herbst 1977, an die Tage danach, an das Begräbnis auf dem Nordfriedhof hat sie kaum Erinnerungen. „Ich habe vieles verdrängt.“

Aber der Mord am Vater ist nicht der Tiefpunkt, es kommt noch schlimmer: Zwei Jahre später stirbt ihre Mutter, vermutlich an den Folgen einer Thrombose. „Sie wollte sich nicht operieren lassen. Ich glaube, der Tod meines Vaters hatte sie zu sehr mitgenommen, sie wollte einfach nicht mehr.“

Für die 16-jährige Ute T. gerät das Leben nun vollends aus den Fugen. Sie kommt in eine Pflegefamilie und reißt aus. Schlägt sich auf der Straße durch, schläft in U-Bahnhöfen. Wird von der Polizei aufgegriffen, zu ihrem Bruder gegeben, dann ins Heim, schließlich kriegt sie eine eigene Wohnung, da ist sie gerade einmal 18. „Und von da an habe ich mich hochgerobbt. Ich glaube, meine Eltern wären heute stolz auf mich.“

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Ein Polizist kümmert sich am Tatort um Anna Marcisz, die Ehefrau des erschossenen Schleyer-Chauffeurs.

dpa

Ute T. ist verheiratet, sie jobbt tageweise in einer Kantinenküche. „Mein Traumberuf war Verkäuferin.“ Aber dazu kam es nie. Die Berufsschule brach sie ab – Prüfungsangst. Ihr Leben wäre anders verlaufen, hätten die Terroristen ihren Vater nicht erschossen, davon ist sie überzeugt. Jahrelang besucht Ute T. regelmäßig das Grab ihrer Eltern, spricht leise mit ihnen, wenn sie sicher ist, dass niemand zuhört. „Ich sagte ihnen dann immer, wie sehr sie mir fehlen. Das hat mich beruhigt.“

Seit sechs Jahren gibt es das Grab nicht mehr. Es wurde abgeräumt. Ute T., vierfache Mutter, konnte die Miete nicht mehr aufbringen. Geblieben sind ihr Erinnerungen und alte Fotos. „Ich habe meine Eltern im Herzen“, sagt sie . „Das ist das Wichtigste.“

Der Polizist

1977 gab es keine professionelle Hilfe für Polizisten. Keine psychologische Betreuung wie heute. Den Umgang mit furchtbaren Erlebnissen regelten die Beamten notgedrungen auf ihre Weise. Hemdsärmlig.

Polizeimeister Gottfried Plützer ist 22 Jahre alt und gerade mit der Ausbildung fertig; als erster Polizist am Tatort hört er den letzten Atemzug des sterbenden Leibwächters Roland Pieler. Stunden später macht Plützer mit seinem Kollegen ein Bier auf und erscheint tags darauf wieder zum Spätdienst. Als sei nichts gewesen. Seine Mutter kriegt zu Hause einen Nervenzusammenbruch.

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Gottfried Plützer war der erste Polizist am Tatort.

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„Am Tatort sind tausend Eindrücke auf mich eingestürzt“, erinnert sich Plützer heute. Zuerst vergewisserte er sich, ob die vier Opfer tatsächlich tot waren. Gab dann per Funk eine Fahndung nach dem Bulli raus, den Zeugen beobachtet hatten. Sperrte den Tatort ab und hielt die Schaulustigen fern.

Seit kurzem ist der 62-Jährige im Ruhestand. Ein Foto von Roland Pieler kann er sich bis heute nicht anschauen. „Dann sind sofort wieder die Bilder im Kopf.“ Immerhin eine gute Erinnerung hat er behalten an den dramatischsten Einsatz seiner Laufbahn: „Als Dienststelle hat uns das extrem zusammengeschweißt. Wir waren danach wie eine Familie.“

Gottfried Plützer ist nach dem 5. September 1977 nie wieder blauäugig in einen Einsatz gegangen. Denn ein Gedanke, sagt er, sei ihm damals erst beim Feierabendbier gekommen: „Wären der Kollege und ich nur eine Minute früher da gewesen, wären wir mitten ins Geschehen geraten. Dann wären wir wohl auch weg gewesen.“

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