geschrieben von Joachim Frank

„Kompromisslos bereit zum Töten und zum Sterben“
Die Historikerin Petra Terhoeven erklärt den „Mythos RAF“.

„Kompromisslos bereit zum Töten und zum Sterben“ von Joachim Frank

Frau Terhoeven, wie lebendig ist der „Mythos RAF“ mit seiner, wie Sie es nennen, „morbiden Faszination“ 40 Jahre nach dem Deutschen Herbst?

Der Mythos selbst, glaube ich, existiert nicht mehr, oder doch nur noch in sehr kleinen Subkulturen. Das hat damit zu tun, dass wir heute – Gott sei Dank – sehr viel intensiver als früher auf die Opfer schauen. Dass das so lange gedauert hat, hat aber tatsächlich mit dem Mythos zu tun. Ein Charakteristikum der RAF-Geschichte ist nämlich, dass der von den Tätern genährte Opferkult, ihre „Selbstviktimisierung“, den empathischen Blick auf die tatsächlichen Opfer überblendet und verdeckt hat. Nur wegen der Selbststilisierung der Täter zu Märtyrern konnte die Täter-Faszination überhaupt so dominant werden, und es ist bezeichnend, dass die RAF ihr größtes Unterstützerpotenzial letztlich aus einer Mitleidsstrategie bezog.

Der RAF konnte gar nichts Besseres passieren als „Stuttgart-Stammheim“, wo die prominentesten Täter – Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe – vor Gericht standen und nach ihrer Verurteilung einsaßen?

Dieses Gefängnis wurde im In- und Ausland zum Symbol einer perfekt funktionierenden deutschen Vernichtungsmaschinerie. Das ist eine glatte Farce, wenn man bedenkt, dass die Insassen im Hochsicherheitstrakt privilegierte Haftbedingungen hatten, in deren Genuss davor und danach kein Strafgefangener in der Bundesrepublik jemals gekommen ist.

Warum hat die Propaganda trotzdem funktioniert?

Dazu haben wesentlich einige Anwälte der RAF-Täter beigetragen. Etwa wenn sie die Haftbedingungen ihrer Mandanten noch als „Folter“ bezeichneten, als sie längst wussten, dass davon nicht mehr im Mindesten die Rede sein konnte. Die Anwälte tragen damit auch eine zentrale Mitverantwortung für das Nachwachsen der zweiten RAF-Generation.

Wie schätzen Sie den Anteil der staatlichen Reaktion ein?

Heute weiß man, wie marginal die tatsächliche Bedrohung war – insbesondere, wenn man sie mit der Gefahr vergleicht, die heute von rechtem oder islamistischem Terror ausgeht. Insgesamt wurden überhaupt nur 500 Angeklagte wegen RAF-Mitgliedschaft verurteilt, 60 bis 80 davon waren zuvor im Untergrund. Es gab 26 lebenslängliche Haftstrafen. Die islamistische Szene in Deutschland heute umfasst mehr Gefährder, als die RAF in allen drei Generationen an Mitgliedern hatte. Schon diese Zahlen belegen, wie sehr Staat und Gesellschaft überreagiert haben. Andererseits ist diese Überreaktion typisch für das Phänomen Terrorismus: Man kann mit relativ geringem realem Machtpotenzial ein unglaubliches Bedrohungsgefühl erzeugen. Terrorismus ist letztlich eine Kommunikationsstrategie.


Zur Person

Petra Terhoeven, geboren 1969 in Düren, ist Professorin für Europäische Kultur- und Zeitgeschichte an der Universität Göttingen.

Am 19. September erscheint von ihr: „Die Rote Armee Fraktion. Eine Geschichte terroristischer Gewalt, C.H.Beck Wissen, 128 Seiten, 9,95 Euro. (jf)

Der RAF-Terror war zu keinem Zeitpunkt staatsgefährdend?

Aber nein! Nun muss man zugunsten der staatlichen Akteure allerdings auch sagen: Sie wussten nicht, wie die Sache ausgehen würde. Und sie wussten oder erahnten zumindest die internationale Dimension des Terrors – speziell die intensive Verbindung der RAF zu palästinensischen Organisationen. Unter diesem Eindruck war es schwer, das Bedrohungspotenzial des linken Terrors richtig zu beurteilen. Die massive Reaktion der Staatsspitze ist aber auch dadurch zu erklären, dass sie selbst im Visier war. Die Leute hatten schlicht Angst ums eigene Leben.

Lag in den Reaktionen des Staates mit neuen Fahndungsmethoden und verschärften Gesetzen eine Art von politischer Instrumentalisierung des RAF-Terrors?

Stärker, als es landläufig im Bewusstsein ist, würde ich die damalige Opposition in die Verantwortung nehmen. Die CDU/CSU hat von Anfang versucht, das Thema Linksterrorismus hochzukochen und die RAF zu dämonisieren – im Dienste ihres politischen Ziels, der Rückeroberung der Macht. Ihr Angriff auf die sozialliberale Koalition folgte dem so simplen wie wirkungsvollen Strickmuster, dass letztlich eben doch „die Sozis“ hinter der Gewalt der RAF steckten und dass das linksintellektuelle Milieu schon um 1968 viel zu viel Verständnis für die „Radikalen“ aufgebracht habe. Die SPD ließ sich davon immer wieder in die Enge treiben. Umso wichtiger war es für die Regierung Schmidt, die RAF zur Strecke zu bringen. Es gab aber auch eine unheilvolle Symbiose zwischen Sicherheitsapparaten und Terroristen.

Die Behörden brauchten die Terroristen?

Wenn man eines aus der RAF-Geschichte lernen kann, dann ist es die Gefährdung der Demokratie durch ihre „Beschützer“. Wir wissen heute, dass der Gang linker Aktivisten in den Untergrund 1968 vom Westberliner Verfassungsschutz aktiv begleitet wurde, indem er die Leute mit Waffen versorgte, um sie erst recht in die Illegalität zu drängen und zu kriminalisieren. Der Staat selbst war also mitverantwortlich dafür, dass die in der linken Bewegung angelegte Gewalt sich nicht mehr einhegen ließ. Der Angriff auf demokratische Ideale durch einen ungenügend kontrollierten Verfassungsschutz ist ein Kontinuum bis heute.

Das ist die eine Seite der Symbiose. Wofür aber brauchten die Terroristen den Sicherheitsapparat?

Für ihr Feindbild. Der sozial-revolutionäre Terror der RAF wollte ja eine möglichst harte Reaktion des Staates provozieren, um ihm so „die Maske vom faschistischen Antlitz reißen“ zu können. Deshalb war maximale Härte des Staates aus Sicht der RAF sogar erwünscht. Sie steigerte und unterfütterte das dann noch einmal durch ihre Opfer-Stilisierung.

Welche Bedeutung hatte denn das Aufbegehren der jungen Generation gegen die Kontinuität vom „Dritten Reich“ in die Bundesrepublik?

Die RAF gab sich zwar – bis zu ihrer Auflösungserklärung 1998 – als idealistische Gruppe anti-faschistischer Widerstandskämpfer. Aber genau das war sie nicht. Es ging ihr um die Selbstermächtigung zum gewaltsamen Kampf. Das war die höchstpersönliche Entscheidung von einigen wenigen. Anfällig für die Versuchung der Gewalt waren Fanatiker und Asketen, die die Verbindung zum Leben und zum Lebensgenuss verloren hatten. Die „NS-Kontamination“ des Staates und der ihn tragenden Institutionen war eine willkommene Legitimation, sich als moralische Avantgarde zu fühlen.

Dann stimmt es trotzdem, dass weder die Geschichte der 68er noch der RAF erklärbar sind ohne den Rückgriff auf die NS-Zeit?

Ganz klar! Natürlich hatte die Bundesrepublik ein Legitimitäts- und Glaubwürdigkeits-Defizit – vor allem aufgrund der hohen personellen Kontinuität zum NS-Regime, aber auch wegen ihrer kritiklosen Gefolgschaft gegenüber der westlichen Führungsmacht USA, die sich im Vietnamkrieg unglaublicher Gräueltaten schuldig machte. Viele moralisch Sensibilisierte drängte das eher auf die Seite der Gewalttäter, als dass sie sich ihrerseits von ihnen distanziert hätten. Die Selbstgerechtigkeit des Staates führte auch zu einem Unverständnis für die Positionen und das Verhalten der viel geschmähten RAF-Sympathisantenszene.

Wie schätzen Sie diese Szene ein, die ja offenbar sehr groß war?

Als empirischer Begriff ist der „Sympathisant“ für die Forschung eigentlich verbrannt, weil damit so viel ideologisches Schindluder getrieben worden ist. Die Union hat ihn völlig inflationär benutzt: Da galt jeder schon als Sympathisant der RAF, der sich kritisch über den Staat zu äußern wagte – bis hin zu Regierungsmitgliedern. Die Intellektuellen natürlich sowieso. In der Frühphase der RAF bis 1971/72 gab es tatsächlich einen verbreiteten David-gegen-Goliath-Reflex. Es gab Sympathien für eine Ulrike Meinhof, die als streitbare Publizistin bekannt und geschätzt war. Meinhofs moralische Glaubwürdigkeit war mit Sicherheit das wichtigste Kapital für die RAF in ihrer frühen Phase.

Und später?

Nach den ersten tödlichen Bombenanschlägen 1972 brach die Sympathie auch der radikalen Linken weitaus stärker ein als oft behauptet. Allerdings ist das linke Milieu letztlich in die Solidarisierungsfalle getappt: Es sah sich im Grunde auf derselben Seite wie die RAF, es hatte die gleichen Feindbilder und empfand sich gemeinsam mit ihr als Opfer eines repressiven Staates.

Was sind Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zum Terror heute?

Wir wissen heute um die Macht der Bilder. Terrorismus, sagt der Politologe Herfried Münkler, „stellt eine Form der Kriegführung dar, in welcher der Kampf mit Waffen als Antriebsrad für den eigentlichen Kampf mit Bildern fungiert“. Das lässt sich schon am Vorgehen der RAF zeigen. Auch sie hat versucht, eine eigene Bildstrategie zu entwickeln. Der große Aufschrei nach dem Tod von Holger Meins 1974 war wesentlich einem Bildprogramm geschuldet. Die Fotografie von Meins’ ausgemergeltem, vom Hungerstreik gezeichneten Leichnam nach der Autopsie wurde zum Beweisstück für den Vergleich bundesdeutscher Gefängnisse mit den KZs der Nazis. Diese geschichtsvergessene, gewissenlose Verdrehung der Tatsachen zulasten der NS-Opfer war – in doppeltem Wortsinn – ungeheuer erfolgreich.

Wenn wir von Bildern sprechen, muss von den Medien die Rede sein.

Im Internet-Zeitalter sind Terroristen nicht mehr darauf angewiesen, dass Zeitungen ihre Kommuniqués veröffentlichen und die „Tagesschau“ ihre Videobotschaften sendet. Was Terroristen mitzuteilen haben, stellen sie heute kurzerhand ins Netz und treiben damit die klassischen Medien noch vor sich her. Sie müssen nämlich entscheiden, ob sie den O-Ton-Terror transportieren. Die neuen Möglichkeiten der Kommunikation haben zu neuen Radikalisierungen geführt – von Gruppen, aber noch mehr von Individuen. Ein positiver Effekt dieser insgesamt bedenklichen Entwicklung ist immerhin das sehr viel skrupulösere Verhältnis der Medien zur eigenen Arbeit.

Was meinen Sie damit?

Täter werden nicht mehr so leichthin heroisiert und mit teils triumphalen Bildern zu Berühmtheiten gemacht, wie das in der Ära der RAF der Fall war. Vielmehr rekurrieren auch die Medien viel stärker auf die Opfer, und zwar inzwischen zum Glück meist, ohne gleichzeitig das Leid voyeuristisch auszuschlachten. In jedem Fall durchkreuzt die Opferperspektive den Versuch der Täter, sich selbst – wie damals die RAF-Terroristen – in die Opferrolle zu bringen.

Aber die Märtyrer-Rolle beanspruchen auch Terroristen, die „im Namen Allahs“ morden.

Hier sehe ich insofern eine interessante Verbindungslinie zu den Linksterroristen der 1970er und 1980er Jahre, als weder die einen noch die anderen ein wirklich konsistentes Theoriegebäude haben. Der islamistische Terror klaubt sich seine Legitimation aus einem lückenhaften, einseitigen Verständnis des Islams zusammen. Die RAF baute in ihr ideologisches Fundament nur die Versatzstücke ein, die ihr zupasskamen. Es gibt von Ulrike Meinhof das schöne Zitat: „Lenin ist gut, weil er das Gleiche sagt wie die RAF.“ Nur liefert – streng genommen – keiner der Theoretiker, die von der RAF herangezogen wurden, eine stringente Argumentation für deren Strategie der „Stadtguerilla“ in der Bundesrepublik. Das Theoriegebäude der RAF war ein Luftschloss. Es war aber auch nicht die Theorie, mit der sie ihre Anhänger und Sympathisanten überzeugte. Das große Faszinosum war die Gewaltverlockung eines nicht-entfremdeten Lebens, es war die kompromisslose Bereitschaft zum Töten und zum Sterben. Das ist beunruhigend, aber wahr. Und auch darin erschreckend aktuell.

Lade mehr

  Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar!

Kommentar verfassen