geschrieben von Peter Pauls

Täter im Wahn
Der RAF-Terror zielte auf Vertreter des Staates, während islamistische Gewalttäter ihre Opfer praktisch wahllos und überall treffen. Ein Vergleich

Täter im Wahn von Peter Pauls

Nicht ganz 25 Jahre liegen zwischen den beiden Bildern: Eines zeigt den am 17. Oktober 1977 ermordeten Hanns Martin Schleyer, der nach seiner Entführung im September 1977 von den Terroristen der RAF als Gefangener zur Schau gestellt wird. Auf dem anderen Foto sind die brennenden Zwillingstürme des World Trade Centers in New York zu sehen, in die El-Kaida-Terroristen am 11. September 2001 zwei Passagierflugzeuge lenkten. 3000 Menschen aus 60 Nationen starben durch diesen und zwei weitere Anschläge am selben Tag. Allein diese Gegenüberstellung lässt erkennen, wie stark sich das Phänomen Terrorismus in einem eher kurzen Zeitabschnitt verändert und letztlich Schritt gehalten hat mit den großen Schüben weltweiten Wandels.

Der islamistische Terror des 21. Jahrhunderts ist international, richtungslos und geprägt von blankem Vernichtungswillen gegenüber jedermann, unterschiedslos, unabhängig von Alter, Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Die „Rote Armee Fraktion“, wie sie sich nannte, zielte dagegen auf die Mächtigen, auf Vertreter des Staates, der Justiz, der Wirtschaft. „Auffälligster Unterschied ist der Umstand, dass die RAF den Staat schwächen wollte, indem sie herausragende Repräsentanten des Systems angegriffen und getötet hat“, sagte jüngst Generalbundesanwalt Peter Frank in einer Rede. Demgegenüber richteten Islamisten sich gegen „weiche Ziele“. Damit kann jeder von uns gemeint sein.

Aufnahmen, die für Leid, Vernichtung und Tod stehen

Auch dafür stehen die beiden Fotos von 1977 und 2001. Wer sie betrachtet, wird auch der Schwierigkeit gewahr, Taten und Täter, ihre Ziele und ihr Kalkül mit angemessenen Worten zu beschreiben, ohne selber in unangemessene Sprache zu verfallen. Denn beide Aufnahmen stehen für Leid, Vernichtung und Tod – im einen Fall fokussiert auf ein Individuum, auf eine prominente Persönlichkeit; im anderen Fall entgrenzt, ausgedehnt auf eine fast beliebig große Gruppe von Menschen, die letztlich „nur“ deshalb zu Opfern wurden, weil sie alle zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Zwar ermordete die RAF auch Leibwächter und Fahrer ihrer „Zielpersonen“ . Sie tötete jedoch nicht völlig wahllos, wie islamistische Terroristen das regelmäßig tun, indem sie Anschläge an Orten begehen, wo sich möglichst viele Menschen aufhalten. Sie suchen und finden ihre Opfer auf Marktplätzen und Flaniermeilen, im Konzertsaal, auf dem Weihnachtsmarkt, in der U-Bahn oder dem Regionalzug. Praktisch überall verbreiten sie mit geringstem Aufwand Angst und Entsetzen. Hinzu kommt, dass die Angreifer nur minimale technische Voraussetzungen benötigen. Sie funktionieren Alltagsgegenstände zu Mordwaffen um: Autos, Kleinlaster, Lkw, Messer oder Äxte. Im Zweifel nehmen diese Terroristen auch den eigenen Tod in Kauf. Das bedeutet maximale Bedrohung für die Gesellschaft. Niemand kann und soll sich sicher fühlen.

Diese Strategie ist paradoxerweise auch eine Folge konsequenter Arbeit der Sicherheitsbehörden. An großkalibrige Waffen oder Sprengstoff kommt niemand ohne weiteres mehr heran. Man muss sich explosives Material wie in der Hexenküche selbst zusammenmixen – oder aber man bedient sich auch hier haushaltsüblicher Materialien, wie es jüngst die Terrorgruppe in Barcelona tun wollte, indem sie Gasflaschen sammelte, um sie zu Bomben zu machen.

Andererseits verfügte der islamistische Terror auf dem bisherigen Gipfel seiner Schreckensherrschaft sogar über eine Art Staatsgebiet. Die IS-Terrormiliz hatte sich weite Teile Syriens und des Iraks einverleibt. Demgegenüber waren die Gewalttaten der RAF punktuelle, fest umrissene und durchgeplante Einzelaktionen. Zu Beginn ihrer Radikalisierung Ende der 1960er-Jahre machten die RAF-Täter vor allem mit Brandanschlägen auf Kaufhäuser oder den Springer-Verlag in Berlin von sich reden. Später – besonders im Jahr 1977 – zeichnete sich mit den Morden an dem Bankier Jürgen Ponto, an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und an Schleyer sowie deren Leibwächtern und Fahrern ab, dass Gewalt auch gegen Unbeteiligte immer stärker zum Repertoire der RAF zählte – gipfelnd in der Entführung des Lufthansa-Jets „Landshut“ mit fast 90 Menschen an Bord. Die Täter wollten zusätzlich Druck auf die Bundesregierung ausüben, den Forderungen der Schleyer-Entführer nachzukommen. „Das zielte auf keine Elite mehr. Da ging es um die Bevölkerung, um uns alle“, sagt Gerhart Baum (FDP), seinerzeit Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Die Entführung der „Landshut“ stand somit in der Täterlogik für die Überschreitung einer Grenze. Der Zweck heiligte nunmehr vollends die Mittel, die RAF bedrohte alle.

Vergrößern

Gerhart-Baum
Gerhart Baum (FDP) war 1977 Staatssekretär im Bundesinnenministerium.

dpa

Hätte die Gewalthistorie der RAF womöglich einen anderen Verlauf genommen, wenn es der GSG 9 am 18. Oktober 1977 nicht gelungen wäre, alle Geiseln unversehrt aus der Landshut zu befreien? Fakt ist: Der Deutsche Herbst als blutiger Höhepunkt des RAF-Terrors wurde auch zu einem Wendepunkt. Große Teile der bis dato gar nicht so kleinen Unterstützerszene wandten sich nun erschreckt von der RAF ab. Anders als heute, wo sich die islamistischen Terroristen in einer streng abgeschotteten, oftmals auch kulturell und sprachlich undurchdringlichen Parallelgesellschaft bewegen, wussten die RAF-Terroristen Teile der gesellschaftlichen Milieus hinter sich, denen sie selbst entstammten.

In einem Beitrag für die „Welt“ schildert der Ethnologe Thomas Hauschild, wie er sich als junger Mann radikalisierte. „Die Rote Armee Fraktion und die Bewegung 2. Juni versuchten den Guerillakrieg und hatten etwa 30.000 aktionsbereite Sympathisanten. Weitere Zehntausende von Verrückten versammelten sich in gewaltbereiten maoistischen und anarchistischen Sekten und Basisgruppen.“ Hunderttausende, womöglich Millionen von Deutschen, viele von ihnen in gutbürgerlichen normalen Rollen, seien damals mit Gedankenspielen des bewaffneten Widerstand gegen den Imperialismus beschäftigt gewesen, so Hauschild, darunter sein Klassenlehrer im Gymnasium oder der evangelische Pastor, der ihn konfirmierte.

Der Vietnam-Krieg habe in den späten 60er Jahren zu einer ungemein starken Politisierung der deutschen Gesellschaft geführt, erinnert sich Gerhart Baum. Teile der jungen Generation seien von dem Gedanken geleitet worden, nicht mehr schuldig zu werden wie die Generation der Eltern, denen die Nazi-Vergangenheit Deutschlands angelastet wurde. „Wenige begingen die Straftaten, aber Millionen haben in der einen oder anderen Weise sympathisiert“, stellt Hauschild fest. „Noch ist zu klären, in welcher Weise Bürger und Eliten der DDR in all das verwickelt waren. Verhindert unsere peinliche Begeisterung für die RAF bis heute, dass wir uns auch in islamistischen Terroristen wiedererkennen können? Letztlich aber waren die RAF und ihr Terror eine deutsche und an die Geschichte und Entwicklung unseres Landes gebundene Erscheinung.“

Ein festes moralische Gerüst musste die Nachkriegsgesellschaft in jener Zeit erst noch zimmern, denn in den ersten 20 Jahren nach 1945 war sie eher damit beschäftigt gewesen, das Land aufzubauen und der eigenen Schuld aus dem Weg zu gehen. „Unser Staat erwies sich als veränderungsfähig“, sagt Baum, der 1978 Innenminister wurde und den seine politischen Gegner zeitweilig als Sicherheitsrisiko hinstellten, weil er den Sicherheitsapparat, allen voran das Bundeskriminalamt, in der Folge des Deutschen Herbstes wieder in das von der Verfassung vorgesehen Gefüge der staatlichen Institutionen einpasste, ohne dass nachlassende Repression die RAF gestärkt hätte. Im Gegenteil: 1998 war die RAF am Ende. Das Grundgesetz hingegen sei in den 1960er und 1970er Jahren – auch unter dem Eindruck der Herausforderungen durch den linksextremistischen Terror – „lebendig geworden“, resümiert Baum.

Vergrößern

Aust
Stefan Aust hat sich wie kein anderer Journalist mit der RAF auseinandergesetzt.

dpa

Niemand wird annehmen, dass der El-Kaida- und IS-Terror sich auf gleiche Weise erledigen. Und doch lassen sich Vergleiche ziehen zwischen dem Deutschen Herbst und dem Terrorismus im 21. Jahrhunderts. „Ohne gesellschaftlichen Halt, aber voller Energie, Kampfeswillen und Verblendung. Hat sich schon sehr früh mit dem Terrorismus verstrickt.“ So beschreibt Stefan Aust, der sich wie kein anderer Journalist mit der RAF auseinandergesetzt hat, deren Mitglied Peter-Jürgen Boock. Als Heimkind in die militante Szene abgetaucht, gehörte Boock 1977 zu denen, die Schleyer entführten und vier seiner Begleiter erschossen.

Austs Schilderung trifft auch viele derer, die heute reklamieren, im Namen des Islams unterwegs zu sein – wie etwa Anis Amri, der 2016 mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachtsmarkt raste. Es sind solche buchstäblich haltlosen Menschen, die heute von Imamen und anderen ideologischen Einpeitschern in Marsch gesetzt werden – ähnlich wie Heimkinder oder Psychiatriepatienten in den 60er und 70er Jahren das „kämpfende Fußvolk“ der RAF sein sollten.

Von politischem und religiösem Wahn, die oft nur ein kleiner Schritt trenne, sprechen Aust und sein Ko-Autor Helmar Büchel in der „Welt“, von politischem Sendungsbewusstsein, das mit religiöser Unfehlbarkeit aufgeladen werde. Am Ende sind die Täter Herren über Leben und Tod – in wessen Namen auch immer. „Wir waren doch keine Massakermenschen wie die Leute vom IS“, hat der Ex-Terrorist Boock zu Aust gesagt und dies sinngemäß jüngst im „Spiegel“ wiederholt. Und doch führt eine Verbindungslinie von Hanns Martin Schleyer zu den brennenden Zwillingstürmen mit den darin eingeschlossenen Menschen. Wann beginnt das Morden in seiner Ungeheuerlichkeit, wenn nicht mit dem ersten Opfer?

Die Deutschen seien mit den Jahren „reifer“ geworden, urteilt Gerhart Baum. Insbesondere in den vergangen Monaten hätten sie gezeigt, dass sie gelernt hätten, mit dem Terrorismus umzugehen und das Risiko einzuordnen. Außenpolitisch indes ist der Anti-Terror-Kampf eine prekäre Angelegenheit. Jede Rakete, die vermeintlich auf Stellungen von IS oder El Kaida abgefeuert wird und stattdessen Hochzeitsgesellschaften, Schulen oder Wohngebiete trifft, kann von den Opfern und ihrem Umfeld als das wahrgenommen werden, was der Westen doch eigentlich bekämpfen will: Terror. So wachsen durch den „Krieg gegen den Terrorismus“ neue Terroristen heran. „Der Terrorismus gehört zur Realität des heutigen Lebens.“ Der bittere Satz des Liberalen Gerhart Baum, obwohl auf die deutsche Gesellschaft gemünzt, hat so auch im internationalen Maßstab Gültigkeit.

Lade mehr

  Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar!

Kommentar verfassen