geschrieben von Harald Biskup

Die Todesnacht von Stammheim – Selbstmord als Inszenierung
Um die Todesnacht im Stammheimer Hochsicherheitstrakt rankten sich viele Gerüchte.

Die Todesnacht von Stammheim – Selbstmord als Inszenierung von Harald Biskup

Sofort nachdem die Nachricht von der Erstürmung der gekaperten Lufthansa-Maschine im fernen Mogadischu in der Festung Stammheim die Runde gemacht hat, läuft alles wie dutzendfach besprochen. Andreas Baader und Jan-Carl Raspe holen heimlich ihre Pistolen aus den Verstecken: Baader kramt eine halbautomatische ungarische FEG hervor, mutmaßlich irgendwo aus seinem Plattenspieler, Raspe zieht eine HK 4 von Heckler & Koch hinter einer Fußleiste seiner Zelle hervor. Gudrun Ensslin schlingt ein abgeschnittenes Lautsprecherkabel um eine Stahlstange ihres Fenstergitters und um ihren Hals, dann tritt sie den Stuhl weg. Ingrid Möller sticht sich mit einem Messer ihres Essbestecks aus Anstaltsbeständen in die linke Brust und überlebt verletzt. Ulrike Meinhof hatte sich am 9. Mai des Vorjahres in ihrer Zelle erhängt.

Als die Nachtschicht der Bewacher gegen 7 Uhr früh die letzte Kontrollrunde durch den Zellentrakt im siebten Stock des Gefängnis-Hochhauses macht, entdeckt sie die Leichen. Dieser 18. Oktober 1977 ist einer der am stärksten emotional aufgeladenen Tage der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Nation atmet auf über die erfolgreiche Geiselbefreiung in Somalia, gleichzeitig wird das Versagen des Staates durch den nicht verhinderten Selbstmord von drei Top-Terroristen offenkundig. Kanzler Helmut Schmidt, erleichtert über die Aktion der GSG-9, fühlt sich durch die Nachrichten aus Stammheim „wie von der Keule getroffen“, wird er später gestehen. „Ein Tritt in den Unterleib.“

Schuss sollte wie Hinrichtung aussehen

Das Ende der RAF-Führung wirkt wie eine Inszenierung. Baader, der schon immer einen Sensus für symbolische Handlungen hatte, schießt zweimal, um einen Kampf vorzutäuschen. Für den zweiten Schuss richtet er den Lauf der Waffe gegen seinen Nacken. Sein aufgesetzter Genickschuss sollte wie eine Hinrichtung aussehen. Vor einem Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags wird im Januar 1978 ein Staatsanwalt erklären, Baaders Suizid habe auf Methoden der SS und des NS-Volksgerichtshofs verweisen sollen, auf den „faschistischen Bullenstaat“, den die RAF in der Bundesrepublik fortbestehen sah.
Raspe schießt sich in den Mund.

Blutüberströmt finden ihn die Beamten und lassen ihn sofort in eine Klinik bringen, dort stirbt er wenige Minuten später. Lange bevor die Todesursache offiziell ermittelt ist, lässt das Stuttgarter Justizministerium verlautbaren, Baader, Ensslin und Raspe hätten sich „in der Vollzugsanstalt Stammheim das Leben genommen“. Im April 1978 stellt die Staatsanwaltschaft Stuttgart ein vorschriftsgemäß eingeleitetes Ermittlungsverfahren ein: Eine „strafrechtlich relevante Beteiligung Dritter“ liege nicht vor.

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Stammheim

Auch nach dieser Entscheidung verstummen die gleich nach der „Todesnacht“ von Stammheim aufgekommenen Verschwörungstheorien und Gerüchte über eine mögliche Fremdeinwirkung nicht. Zu denen, die eine Ermordung der Häftlinge zumindest nicht ausschließen wollen, gehören der Ensslin-Verteidiger und spätere SPD-Innenminister Otto Schily. Eine von ihm geforderte internationale Untersuchungskommission bestätigt die offizielle Todesversion. Es gab auch wilde Spekulationen über die mögliche Verwicklung eines ausländischen Geheimdienstes.

Die italienische Zeitung „Il Manifesto“ veröffentlicht kurz nach dem 18. Oktober eine Erklärung, die die deutschen Behörden des Mordes beschuldigt. Als einer der ersten unterzeichnet sie der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, der Baader 1974 in Stammheim besucht hatte. Seine anschließende Anklage gegen „menschenunwürdige Haftbedingungen“ wirkte freilich wenig überzeugend, weil er Baader nicht in dessen Zelle, sondern in einem kahlen fensterlosen Besucherraum getroffen hatte und weil er schon damals halbblind war.

Kontaktaufnahme per Zuruf

Selbstmorde von Gefangenen, darauf haben erfahrene Anstaltsleiter gleich nach der tragischen Oktobernacht hingewiesen, ließen sich auch bei höchsten Standards nie völlig vermeiden. Aber Suizid mit Schusswaffen im vermeintlich sichersten Gefängnis Deutschlands, ja der Welt, als das Stammheim nach seiner Eröffnung 1963 gepriesen worden war? Im Hochsicherheitstrakt von Haus 1? Wie konnte das gelingen? Trotz Kontaktsperre und des längst wieder abgeschafften „Umschlusses“, des gemeinsamen Aufenthalts der RAF-Häftlinge auf dem Gang?

Heute geht man davon aus, dass Mitarbeiter von Rechtsanwalt Klaus Croissant, zeitweise Wahlverteidiger von Andreas Baader, Sicherheitslücken im angeblich perfekten Stammheimer System nutzten. In besonders präparierten Aktenordnern schmuggelten sie durch den Eingang zum unmittelbar an das Gefängnis angrenzenden Gerichtssaal (von dem offenbar bekannt war, dass die Kontrollen laxer waren) allerlei Verbotenes. Darunter Heizspiralen, ein Bügeleisen-Unterteil, Mini-Kameras und Mini-Radios – und offenbar auch die Pistolen und ein halbes Kilo Sprengstoff. Ein japanisches Transistorgerät wird am Tag nach dem Suizid in Raspes Zelle gefunden. Es soll auch eine Art geheime Wechselsprechanlage zwischen den Zellen gegeben haben, aber ob Baader & Co. sich in jener Schicksalsnacht darüber verständigten, ist unwahrscheinlich. Vermutlich erfolgte die Kontaktaufnahme ganz klassisch per Zuruf – über den Gang zu den sich gegenüber liegenden Zellentüren oder von außen, von Zellenfenster zu Zellenfenster.

Eigentlich sollte die zickzackförmige Fassade Kommunikation erschweren. Eine Schnapsidee, urteilten Strafvollzugs-Praktiker alsbald nach Inbetriebnahme von Deutschlands damals modernster Haftanstalt. Die Entfernung Fenster-Fenster beträgt etwa 20 Meter, die von Tür zu Tür nur ungefähr fünf Meter. Stärker räumlich voneinander getrennte Zellen gibt es im siebten Stock nicht, wo man die RAF-Leute vollkommen isoliert von den übrigen 600 Häftlingen unterbringt.

Die durch die prominenten Häftlinge zum mystischen Ort für die aktive linksradikale Szene avancierte siebte Etage in Stammheim war ein „Knast im Knast“. Bis heute sind ganze drei erfolgreiche Ausbrüche zu verzeichnen. Es gab und gibt Kameras und Bewegungsmelder, der vergitterte und triste Dachhof (Gefangenen-Jargon: „Affenkäfig“), auf dem die Insassen ihre obligatorischen Runden in frischer Luft drehen, ist mit einem Stahlnetz überspannt, das zusammen mit dem Betondach ursprünglich befürchtete Befreiungsaktionen per Hubschrauber abwehren sollte. Nach den Suiziden von Baader, Ensslin, Raspe und zuvor schon von Ulrike Meinhof geriet Stammheim zum Symbol staatlicher Gewalt, ja für Justiz- und Auftragsmord.

Gerichtsgebäude speziell für den Prozess gebaut

Im April 1974 werden zunächst Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof nach Stammheim verlegt, bald darauf auch Baader und Raspe. Ihnen soll von Mai 1975 an der Prozess gemacht werden, gleich nebenan, in einem eigens für dieses Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart erbauten Gerichtssaal. Hohe raue Betonwände, keine Fenster, Neonlicht, dem Zeitgeschmack entsprechend orangefarbige, fest im Boden verankerte Schalensitze fürs Publikum. Zum ersten Mal in der deutschen Justizgeschichte wird aus Sicherheitserwägungen ein Gerichtsgebäude speziell für einen Prozess auf einem Gefängnis-Gelände gebaut. Offizielle Bezeichnung: „Mehrzweckgebäude“.

Eigens für das RAF-Mammutverfahren wird die Strafprozessordnung in einigen wichtigen Punkten geändert. So wird die Möglichkeit eingeführt, auch in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln. Nach 192 Verhandlungstagen werden am 28. April 1977 die verbliebenen drei Angeklagten wegen vierfachen Mordes und 54-fachen versuchten Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Besonderheit und Novum Nummer drei: Überall auf der Welt werden männliche und weibliche Gefangene in getrennten Anstalten inhaftiert. Nicht so in Stammheim. Für die als gefährlichste Staatsfeinde der Republik angesehenen RAF-Terroristen machte man, wiederum der Sicherheit wegen, eine Ausnahme.

Wenn Details über vermeintliche oder tatsächliche Privilegien nach außen dringen, sorgen sie in der extrem angespannten Atmosphäre des “Deutschen Herbstes” regelmäßig für Empörung. Die „Bild“-Zeitung zeichnet mehrfach Zerrbilder von einem angeblichen Luxusleben in der Stammheimer Festung. Einmal titelt das Blatt „Liebesstunde – Baader bei Ensslin im Bett“, kurz darauf ebenso auflagenträchtig „Baaders Sonnenbad auf dem Dachgarten“.

Ein vergittertes Reich eingerichtet wie eine Studentenbude

Unbestreitbar gibt es für die Führung der zerschlagenen Baader-Meinhof-Bande eine Reihe von Vorzugsbehandlungen. Sie schildert der Vollzugsbeamte Horst Bubeck, notiert vom Journalisten und Essayisten Kurt Oesterle. Die Hungerstreiks hätten den Gefangenen eine Reihe „knast-untypischer Vergünstigungen“ eingebracht. Auf ärztliche Anordnung habe Baader zusätzlich zur normalen Kost täglich 400 Gramm rohes Fleisch erhalten, das er sich in der „Fress-Zelle“ auf einer Kochplatte selbst zubereiten konnte. Für alle vier RAF-Leute gab es „Einzelaufstellungen“, Baader jedoch wurde am besten versorgt. „Diese Portionierung“, so Oesterle, „entsprach haarscharf den Machtverhältnissen, die in der Gruppe herrschten.“ Baader war auch stets der Erste, der sich bediente, wenn das Mittagessen angeliefert wurde. „Der Leitwolf war zuerst dran und holte sich immer das größte Stück“, berichtet aus seinem tagtäglichen Umgang der Justizbeamte Bubeck, in den Augen von Baader und Genossen nur ein willfähriger Büttel des verhassten Staates.

Er war peinlich darauf bedacht, dass normale Untersuchungs-Häftlinge nichts von den Sonderregelungen in Haus 1 mitbekamen, etwa vom Fernseher in jeder Zelle. Baader, der sich schon früher gern einen intellektuellen Anstrich gegeben hat, richtete sein vergittertes Reich ein wie eine Studentenbude. In seinem Regal standen zeitweise bis zu 900 Bücher, darunter Klassiker wie Marx und Lenin. An einer Wand von Zelle 719 hatten Landkarten und ein Che Guevara-Poster geklebt, zum Interieur gehörten auch allerlei DDR-Militaria. In Gudrun Ensslins Todeszelle fand man den offenbar kurz vor ihrem Suizid noch benutzten Plattenspieler. Zuletzt aufgelegt hatte sie Bob Dylans im Jahr zuvor erschienenes Studioalbum „Desire“, das von Missständen in amerikanischen Gefängnissen handelt.

Der im zweiten Untergeschoss eingelagerte Nachlass der drei toten RAF-Häftlinge, darunter vermutlich auch Ensslins Geige, wurde schon 1978 durch ein sintflutartiges Unwetter komplett vernichtet. Symbolträchtige Entsorgung eines schwierigen Erbes.

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